25. August 2019

Willkommen zur vierten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter gut und informativ fandet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Falls ihr Feedback habt, schreibt uns eine Mail oder twittert uns an. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:

Rückblick. Die Chinajournalismus-Bubble schaut weiterhin vor allem nach Hongkong, entsprechend ist das auch wieder der Großteil des Newsletters. Kaum zu glauben, aber die letzten zwei Wochen in Hongkong waren noch einmal extra chaotisch – wir versuchen daher im HK-Teil mal eine Zweiteilung, mit Einordnungen im einen und einer groben Timeline der Ereignisse im anderen Teil. Der Wahlkampf in Taiwan wird zunehmend bizarr, seitdem auch ein YouTube-Star bei den Wahlen antritt und die NPP sich weiter selbst auseinandernimmt. Katharin war allerdings diese Woche im Urlaub und in Brandenburg, von daher ist die Ausgabe etwas kürzer.

—Katharin & Nils

🇨🇳

Mythos Sozialkreditsystem zum Zweiten. Nachdem wir letzte Woche schon ein entsprechendes Stück von Wired verlinkt habe, ist jetzt auch unsere neueste Folge zu Sozialkredit raus, in der die Forscherin Shazeda Ahmed (UC Berkeley) nochmal im Detail über die Unterschiede zwischen Realität und Berichterstattung zu Sozialkredit spricht.

China kauft sich Bräute aus Myanmar ein. Die NYT berichtet aus einem Dorf in Myanmar, von dem aus Menschenhandel von jungen Mädchen als Bräute nach China betrieben wird. Die Geschichte ist krass und berichtet relativ detailliert, wie die jungen Mädchen misshandelt werden, also CN für den Artikel. Der Artikel begründet die Nachfrage nach Frauen aus Südostasien mit der chinesischen Ein-Kind-Politik und dem Überschuss von Männern in China, aber ähnliche Phänomene gibt es auch in Südkorea und Taiwan. Die hatten keine Ein-Kind-Politik, „importieren“ aber auch Bräute für Männer, insbesondere aus ländlichen Gegenden in Vietnam. Ähnlich wie in China sind es auch hier tendenziell ärmere Männer in ländlichen Gegenden, die für eine Ehefrau aus Südostasien bezahlen. Vielleicht ist das Problem nicht die Ein-Kind-Politik, sondern das Patriarchat?

USA eskalieren den Handelskrieg weiter. Unsere Vorlage für den Newsletter sollte einfach den Satz „Trump kündigt neue Zölle für chinesische Waren an“ enthalten, denn genau das ist auch in diesen zwei Wochen wieder passiert. Also auch hier weiterhin kein Ende in Sicht. Ein offener Brief in den USA warnt außerdem davor, Studierende und Lehrende nur aufgrund ihrer chinesischen Herkunft als Spione zu profilen – etwas, was in den letzten Monaten in den USA immer wieder passiert.

„Wahlen“ in Macau. Wenn Hongkong das unfolgsame Kind ist, ist Macau das Musterkind. Hier wird bald gewählt – eine von Peking unterstützte Person steht zur Wahl. Ein Land, zwei Systeme, ganz ohne Proteste.

Wo chinesische Studierende in den USA ihre Nachrichten herkriegen. Sehr gutes Stück im New Yorker von Han Zhang über College Daily, eine chinesische WeChat-Publikation, die nicht weiß, ob sie Content oder Journalismus sein möchte. Auch nicht zu vergessen: Es ist kein Staatsmedium, aber trotzdem sehr nationalistisch geprägt. College Daily lebt von der Desillusionierung vieler chinesischer Studierender mit dem westlichen Ausland. Nationalismus kommt in China nicht nur von oben. Aus Australien schreibt auch Vicky Xu darüber, wie sie als nationalistische Studentin von China nach Australien kam – und mehrere Jahre brauchte, um ihre Meinung zu ändern. Es hilft sicher auch nicht, dass viele chinesische Studierende im Ausland merken, dass Ausländer*innen sie oft als gehirngewaschen abtun und auf sie herabsehen.

🇭🇰

Timeline

  • Den 11. August sollte man sich als einen wichtigen Eskalationspunkt der Proteste in Erinnerung behalten, besonders wegen mehrerer Instanzen extremer Polizeigewalt, deren Bilder sich in das kollektive Gedächtnis der Bewegung eingebrannt haben. Einen Twitter-Thread dazu gibt es hier, besonders prominent gingen die Bilder einer Ersthelferin herum, die am Auge verletzt wurde, und von Polizisten, die sich als Demonstrierende verkleidet hatten und gewaltsam mindestens eine Person in einer Lache aus ihrem eigenen Blut festnahmen (Quelle 1 und 2).
  • Als Reaktion auf die Polizeigewalt gingen Tausende am 12. und 13. August zum Hongkonger Flughafen. Montag legten sie den Flughafen lahm, ebenso am Dienstag, doch da kam es zu zwei Eskalationen, als Demonstrierende Männer festsetzten, die sie für chinesische Spione hielten.
  • Die Eskalation am Dienstag sorgte für viele Diskussionen und Selbstfindung innerhalb der Bewegung und die Mehrheitsmeinung war gegen weitere Eskalationen. Stattdessen gab es am 18. August eine gigantische Demo im strömenden Regen gegen Polizeigewalt. Am Abend sah es kurz so aus, als könnte es doch noch knallen, aber sowohl online als auch vor Ort wandten Leute viel Energie auf, um radikalere Demonstrierende dazu zu bringen, nach Hause zu gehen statt in die „Falle“ der Polizei zu laufen.

  • Am Wochenende vom 17. und 18. August gab es in aller Welt Soli-Demos mit Hongkong und auch dabei kam es mehrfach zu Zusammenstößen mit pro-chinesischen Gegendemos, u.a. in Australien, wo es sehr viele chinesische Studierende gibt, die im Gegensatz zu Studierenden in vielen anderen Ländern keine Ferien haben und daher zum Protestieren vor Ort sein können.
  • Am 19. August gab Twitter bekannt, dass sie mehr als 900 Accounts gelöscht haben, die angeblich im Auftrag des chinesischen Staates Falschinformationen zu HK verbreitet haben. Facebook und YouTube löschten auch ein paar Inhalte. Es gibt noch keine Infos, warum sie glauben, dass die Accounts staatlich gesteuert und nicht einfach chinesische Nationalist*innen sind. Twitter verbietet von nun an auch Staatsmedien, gesponsorte Tweets zu kaufen (Anlass 1 und vermutlich Anlass 2). Die NYT und CNN hatten auch schon vorher über den Desinformationsaspekt chinesischer Propaganda zu HK geschrieben.
  • Am 21. und 24. August kam es wieder zu Protesten gegen Polizeigewalt in Yuen Long und gegen Überwachung in Kwun Tong, Wong Tai Sin und Sham Shui Po. An beiden Tagen sah es kurz nach Eskalation aus – am 21. verbarrikadierten sich die Demonstrierenden in der U-Bahn-Station und die Polizei bereitete sich schon darauf vor, einzurücken und zu räumen. In der letzten Minute verließen alle die Station mit einem Sonderzug der U-Bahn und auch am Wochenende schienen Leute sich wieder mehr auf das „be water“-Mantra zu besinnen und der Konfrontation auszuweichen, statt sie zu suchen. Der Schock vom Flughafen scheint einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben.
  • Die U-Bahn bekam nach den Sonderzügen am 21.08. Druck aus China und anscheinend auch von der Regierung und wird jetzt u.a. keine regulären Züge und definitiv keine Sonderzüge mehr zu Stationen fahren, wo Proteste stattfinde. Viele Strategien der Demonstrierenden basierten auf funktionierendem Nahverkehr, diese Entscheidung könnte den Protest schwieriger machen.

Einordnung

Fernostwärts-Update aus Hongkong. ZEIT-Korrespondentin Xifan Yang war Anfang August nochmal für eine Woche in Hongkong und berichtet u.a. von einem Flashmob-Protest, dem sie beiwohnte. Auch wichtig: Sie betont, dass die gewalttätigen Demonstrierenden definitiv in der Minderheit waren – wichtige Einordnung für die teils dramatischen Bilder, die natürlich leicht viral gehen. Aus ihrer Sicht übertreibt die Polizei die Gewaltbereitschaft der Demonstrierenden.

Widerstandsstrategien und Propagandakrieg. Ich argumentiere bei ZEIT Online, dass die Proteste vormachen, wie Protest im 21. Jahrhundert funktionieren könnte. Natürlich sind die Strategien nicht 1:1 auf andere Kontexte übertragbar, aber die kreativen Widerstandsstrategien sind mittlerweile nahezu perfekt auf das digitale Zeitalter und Protest in einer Großstadt ausgelegt. Dazu gehört natürlich auch Propaganda – sowohl von der chinesischen Regierung als auch von der Protestbewegung, die dem etwas entgegensetzen muss, um die Unterstützung der Öffentlichkeit nicht zu verlieren.

Eine linke Analyse der Proteste. Wilfred Chan hat im Dissent Magazine eine der wenigen linken Analysen der Proteste veröffentlicht, die in Teilen auch in deutscher Übersetzung im Freitag erschienen ist. Der Punkt: Der Freiheitskampf in Hongkong ist neu und braucht neue Modelle der Befreiung gegenüber Kapitalismus und Imperialismus aus China. Es kein Kampf von Kapitalismus gegen Kommunismus mehr, wie er noch in vielen Köpfen feststeckt, sondern gegen einen autoritären Kapitalismus aus China.

Umfragen. Es gibt endlich erste Statistiken zu den Teilnehmenden der Demos dank einer detaillierten Umfrage der Chinese University of HK, Ergebnisse gibt es hier. Hauptpunkte: Demonstrierende sind vor allem jung und gut gebildet, gehen mittlerweile sowohl gegen das Auslieferungsgesetz als auch Polizeigewalt auf die Straße, sind zunehmend skeptisch was die Effektivität „friedlicher, rationaler und nicht gewalttätiger“ (和理非) Proteste angeht und unterstützen die Eskalierung der Protestaktionen. Außerdem gibt es Umfragen in der Bevölkerung, u.a. hier und hier (spannend: nur 20 Prozent der Befragten geben der Regierung in Peking die Schuld an den Eskalationen).

Polizeigewalt. Analyse der New York Times zum Einsatz von u.a. Tränengas in HK und wie die Art der Nutzung aus „non-lethal methods“ sehr schnell sehr gefährliche Methoden macht.

Geheimsprache Kantonesisch. Um zu verhindern, dass chinesische Spione in Telegramgruppen mitlesen, benutzen Demonstrierende in HK jetzt teils eine ad hoc erfundene Umschrift für Kantonesisch, die von jungen Hongkonger*innen in ihrem Alltag der letzten Jahre erfunden wurde. Für sprachlich Interessierte gab es außerdem eine interessante Anzeige von einem Hongkonger Tycoon, die von manchen als heimliche Unterstützung für die Demonstrierenden interpretiert wird.

Überwachung. Buzzfeed hat ein längeres Stück zu den Daten, die die Stadt in Hongkong schon an verschiedenen Orten sammelt und was der rechtliche Hintergrund ist. Außerdem häufen sich Berichte, dass an der Grenze zu China die Handys von Hongkonger*innen durchsucht werden.

Schaut nicht nach Tiananmen, um Hongkong zu verstehen. Das Argument:

Tiananmen is not a useful prism through which to analyze the current situation in Hong Kong. It may set up, almost predetermine, observers — as well as participants — into believing that evermore violence cannot be avoided. And it risks distracting us from the significance of what has already happened here and now.

Der Fokus auf Videos der chinesischen Armee ist unangebracht, so Sala, stattdessen kann man sie besser als Drohgebärde verstehen. Die KPCh 2019 ist nicht die gleiche, die sie noch 1989 war, sie ist sich der Folgen eines weiteren Massakers bewusst und hat andere, weniger gewalttätige Mittel zur Verfügung. Die permanenten Vergleiche mit Tiananmen sorgen im Zweifel dafür, dass wir die aktuelle Situation nur als Vergleich, aber nicht wirklich versehen. Ähnliches könnte man auch Leuten sagen, die darauf bestehen, Hongkong z.B. mit dem Ende der DDR zu vergleichen – im Zweifel sollte eher versucht werden, die Situation vor Ort zu verstehen, als hinkende Vergleiche heranzuziehen.

🇹🇼

Häh, Wahlen in Taiwan? Falls ihr taiwanesische Parteipolitik immer noch verwirrend findet, haben wir zwei jeweils einstündige Einführungen zum Thema in Podcastform: Eine zu den aktuellen Wahlen vom Juli und eine vom Januar 2018, in der aber auch das Parteisystem nochmal erklärt wird. Nach der ersten Stunde solltet ihr den Wahlen gut folgen können und verstehen, worum es geht. Falls ihr lieber lest, habe ich auch ein paar Sachen zu den Wahlen hier aufgeschrieben, aber mit deutlich weniger Hintergrund zum Parteiensystem.

Tsai liegt in Umfragen vorne. Nathan Batto aggregiert auf Frozen Garlic Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen, mit Kommentaren für jedes Update. Gerade sieht es gut für Tsai aus, aber taiwanenesische Umfragen werden meist von parteiischen Organisationen durchgeführt, sodass die Verlässlichkeit von Umfragen generell fraglich ist.

Wer wird alles an den Wahlen teilnehmen? Die ewige Frage – und auch eine wichtige, weil es darum geht, wer wem eventuell Stimmen klauen wird. Taipei-Bürgermeister Ko klingt gerade so, als würde er nicht antreten wollen, und auch für eine Allianz um Foxconn-Millionär Terry Gou sieht es gerade wieder eher schwierig aus. Zumindest müssen Kandidat*innen sich Anfang September entscheiden, um diverse Deadlines einzuhalten, sodass wir hoffentlich bald mehr wissen. Außerdem, fun fact:

Ko also alienated Wang by suggesting that he was a lion, Gou was a tiger, and Wang was a fox. When the media asked Wang about this metaphor, Wang pointedly said, “I’m a person.”

Taiwanesische Politik bleibt unterhaltsam.


Danke!

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Dieser Newsletter ist Teil von Fernostwärts, dem besten und ältesten deutschsprachigen Asienpodcast. Fernostwärts besteht aus Katharin Tai und Nils Wieland. Wir produzieren unseren Podcast und diesen Newsletter, weil wir uns für das Zeitgeschehen in Ostasien interessieren und unser Wissen dazu teilen möchten. Nils studiert im Master Sinologie an der Uni Hamburg, Katharin promoviert am MIT zu chinesischer Außen- und Netzpolitik und arbeitet als freie Journalistin. Katharin schreibt den Newsletter, Nils macht das Lektorat.

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