10. September 2019

Willkommen zur fünften Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Falls du diesen Newsletter lesenswert findest, leite ihn gern an Freund*innen weiter. Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls du den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommst:

Rückblick. In Boston hat das neue Semester angefangen, sodass sich diese Ausgabe leider etwas verspätet. Die Situation in Hongkong normalisiert sich langsam, allerdings ohne sich abzukühlen – Tränengas und brennende Barrikaden sind der neue Nachrichtenalltag. Erfreulicherweise gibt es eine zunehmend komplexe Diskussion zur Wahrnehmung der Proteste unter Festlandchines*innen im Ausland und in China selbst, die teils in der letzen Ausgabe schon anklang. Das Bild der gehirngewaschenen Festlandchines*innen ist in seiner Einfachheit so nicht mehr haltbar und wir haben im Newsletter ein paar Texte zusammengetragen, die dazu beigetragen haben. Außerdem gibt es Unterhaltung und Politik aus Taiwan. Wir haben außerdem endlich einen Steady-Account und wir würden uns sehr freuen, wenn du uns dort monatlich mit ein paar Euro unterstützt!

—Katharin & Nils

🇨🇳

FOW047 – Was ist los in Xinjiang? Wir haben endlich eine (englische) Folge zu Xinjiang gemacht! Zu Gast war William Yang, seines Zeichens Ostasien-Korrespondent für die Deutsche Welle und freier Journalist. Er hat in letzter Zeit immer wieder Geschichten über im Ausland lebende Verwandte von Insassen der Lager in Xinjiang geschrieben und berichtet in der Folge unter anderem von diesen Recherchen.

Merkel in China. Die Bundeskanzlerin ist gerade auf Chinabesuch und es gab direkt Stress, als die chinesische Regierung Korrespondent*innen deutscher Zeitungen von Merkels Pressekonferenz mit Chinas Premier Li Keqiang ausschließen wollte. Letztendlich durften doch alle rein. Gerade in Anbetracht der Situationen in Xinjiang und Hongkong stellt sich auch mal wieder die Frage, wofür Deutschland eigentlich steht – und was Werte wie Demokratie und Menschenrechte kosten dürfen. Chinakorrespondentin Xifan Yang von der ZEIT bringt es auf den Punkt: „Zu Zeiten des Kalten Krieges war der ideologische Gegner arm. Heute sichert er Arbeitsplätze.“ Wobei es mittlerweile kein Konflikt zwischen Kommunismus und Kapitalismus mehr ist, sondern eher zwishen Kapitalismus cum Demokratie und autoritärem Kapitalismus.

Cyber. China und Deutschland planen mehr Kooperation zum Thema Cyberspionage. China hat eine Art Cyber-Nichtangriffspakt mit einer Reihe von Ländern, darunter den USA, in denen die Vertragspartner sich dazu verpflichten, keine Industriespionage zu betreiben. Klappte mit den USA für eine Weile ganz gut und seit den wachsenden Spannungen eher mäßig. Mit Deutschland sollte es so etwas mal geben, bisher ist daraus (noch) nichts geworden.

Schwerpunkt Nationalismus: Festlandchines*innen und Hongkong, zuhause und anderswo. In der letzten Ausgabe hatten wir schon auf Vicky Xus Artikel zu dem Thema hingewiesen, aber die Unterhaltung hat sich seitdem noch einmal weiterentwickelt. Hier die wichtigsten Aspekte mit ein paar entsprechenden Quellen.

  1. Nicht alle Chines*innen sind nationalistisch und gegen die Proteste, aber die Partei trägt maßgeblich dazu bei, dass diese Stimmen sehr leise sind. Mir ist das selber aufgefallen, als ich am Dienstag bei einer Solidaritätsveranstaltung für Hongkong in Boston war: Es gab keine lauten, chinesischen Gegendemonstrant*innen, die es in die Medien geschafft hätte, aber bis an die Ohren vermummte Studierende vom Festland, die sich bewusst von allen Kameras fernhielten und den Organisierenden des Protestes geholfen haben. In Gesamtlänge würde ich diesen sehr guten Beitrag von Kiki Zhao empfehlen, die beschreibt, wie selbst in China auf Weibo viele Leute Informationen zu Hongkong teilen, die dem offiziellen Narrativ widersprechen. Die LA Times hat außerdem einen Chinesen gefunden, der in Hongkong war, um die Proteste zu unterstützen, und nach seiner Rückkehr von der Polizei eingesammelt wurde.
  2. Online-Nationalist*innen, die Hongkonger*innen auf Twitter angreifen. Nationalismus in China ist kompliziert und nur weil jemand auf Twitter pro-chinesische Nachrichten postet, bedeutet das nicht, dass die Person von der Regierung bezahlt wird. Teils sind sie einfach Teil von Subkulturen, die irgendwie in einer nationalistischen Ecke gelandet sind. Mit Hongkong als Anlass haben im August gleich zwei Gruppen nationalistisch mobilisiert: Chinesische Fangirls und nationalistische Internettrolle, die dafür einen VPN und Twitter installiert haben.
  3. Wie man Nationalismus wieder loswird. Yaqiu Wang, Mitarbeiterin bei Human Rights Watch, schreibt ähnlich wie Vicky Xu letzte Woche über ihre Erfahrungen als eher nationalistisch eingestellte Chinesin und wie es dazu kam, dass sie ihre Meinung änderte. Bei ihr war es maßgeblich der Kontakt mit tibetischen Freund*innen, der sie zum Umdenken gebracht hat. Sie diagnostiziert die Kombination aus Propaganda, Informationskontrolle und einem Bildungssystem, das oft nicht zu unabhängigen Denken anregt, als Gründe für den Nationalismus vieler Studierender. Ihr Lösungsvorschlag: „Universities and educators should double down on respectful, nonjudgmental engagement, mindful that the students may feel compelled to appear to defend the Chinese government.“
  4. Die Konflikte in Ostasien generieren auch in migrantischen Communities im Ausland Konflikte. Solange es keine politisch sensiblen Themen gibt, kommen Unterschiede zwischen Leuten aus Hongkong und Taiwan auf der einen und denen aus China auf der anderen Seite nicht so stark zum Vorschein, aber wenn sich beispielsweise ein taiwanesischer Angestellter mit Hongkong solidarisiert, kann das schnell zu Druck von chinesischen Angestellten führen – wie bei diesem Beispiel aus Boston. So ist der Konflikt nicht nur ein ostasiatischer, sondern auch einer, der für westliche Regierungen, Firmen und insbesondere Unis relevant ist: Wie soll mit diesen Situationen umgegangen werden? Wie schützt man Leute aus Taiwan und Hongkong im Zweifel vor aggressiven Gegenprotesten? Ein weiteres Beispiel gibt es aus Deutschland, wo ein taiwanesischer Bubble-Tea-Laden Ziel chinesischer Onlinetrolle wurde.
  5. Manche Unis sind selber schuld an schlecht integrierten chinesischen Studierenden. Besonders in Australien wird immer gerne mit dem Finger auf aggressive, nationalistische, schlecht integrierte Studierende aus China gezeigt. Aber das Phänomen der chinesischen Studierenden, die z.B. schlechtes Englisch sprechen, ist ein zunehmend weit verbreitetes, das mir auch in Oxford begegnet ist oder über das sich auch Lehrende in den USA beschweren. Yang Tian weist im Guardian darauf hin, dass die Schuld hierfür auch bei den Unis liegt: Unis in Australien, den USA und Großbritannien nehmen gern große Zahlen chinesischer Studierender auf, die hohe Studiengebühren zahlen und so die Uni mitfinanzieren, allerdings oft ohne ihnen einen entsprechenden Mehrwert zu bieten oder sich darum zu kümmern, wie gut die Leute tatsächlich Englisch sprechen. Es gibt immer wieder Vorwürfe, sie seien bei ihren Aufnahmestandards auch gerne mal etwas laxer, wenn sie dafür eine weitere Person aufnehmen können, die hohe Gebühren zahlt. Tians Text ist auch ein Aufruf zu mehr Empathie:

Until we humanise Chinese students in the public discourse, academic institutions will continue to use dollar signs as placeholders for their hopes and dreams. It is our collective loss if these organisations can’t muster the interest to try to understand their perspectives, especially when so many stretch themselves to understand us.

MeToo in China. Für chinesischsprachige Menschen gibt nun ein auf GitHub gehostetes Archiv der MeToo-Bewegung in China mit einem Überblick über die verschiedenen Fälle, die in China veröffentlicht wurden. MeToo in China war generell etwas ruhiger als beispielsweise in den USA, aber es haben dennoch einige Männer aufgrund sexueller Belästigung ihre Jobs verloren. Für ZEIT Campus hatte ich schon letztes Jahr über die schwierigen Bedingungen für Feminismus in China geschrieben – er gilt als ein dreckiges Wort, das Leute nicht in den Mund nehmen. Mittlerweile ist das noch extremer geworden und ich habe Anekdoten von Leuten gehört, die keinen Ort für ihre Events gefunden haben, weil es ein Event mit „Frauen“ im Titel war. Dabei geht es gar nicht mal in erster Linie um die KPCh und das autoritäre System, sondern auch darum, dass sich immer wieder auf „traditionelle chinesische Werte“ berufen wird und so das politische System und das Patriarchat sich gegenseitig ergänzen.

Sexpats. Aus aktuellem Anlass ist es leider nochmal relevant, diesen Text von Joanna Chiu zu „Sexpatjournalismus“ in Asien zu teilen. Sie schreibt über die teils unterirdische Attitüde vieler männlicher, weißer Journalisten gegenüber asiatischen Frauen, die sich teils in Berichterstattung niederschlägt und eine Atmosphäre schafft, in der sexuelle Belästigung für viele Männer noch seltener geahndet wird als ohnehin schon.

Sozialkredit für Firmen. Die EU-Außenhandelskammer hat zusammen mit einer Beratunsgfirma einen Bericht veröffentlicht, in dem es um die Anwendung von Sozialkredit auf Firmen geht – vermutlich habt ihr deswegen Ende August wieder in vielen Medien etwas zu Sozialkredit gelesen. Wie so oft ist alles nicht ganz so wild, wie es dargestellt wird. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe an Gesetzen, die zu diesem Thema veröffentlicht wurden, die Jeremy Daum zusammengefasst hat.

Cybergroßmacht China? Chinesische Dominanz im Technologiesektor ist ja eines der großen Themen des Jahres und Julian Gerwitz, Visiting Scholar in Harvard, setzt die aktuelle Debatte mit diesem Stück in Foreign Affairs (Tweet) in ihren historischen Kontext. Ein wichtiger Punkt, der in der sich überschlagenden Berichterstattung oft untergeht: Technische Innovation und Fortschritt sind schon seit langem Teil chinesischer Industriepolitik und sind eng mit Konzepten wie Macht verbunden. Wenn es der KPCh historisch gesehen um die Wiederbelebung und Modernisierung Chinas als einflussreiche Macht im Weltgeschehen geht, kann diese nie ohne Referenz zu Technik gedacht werden.

🇭🇰

Auch diese Woche teilen wir Hongkong wieder in einen Überblick über die Ereignisse der letzten zwei Wochen (Teil I) und Einordnungen und Analysen (Teil II).

I. Timeline

  • 24.08. Demonstration gegen Überwachung, eine „smarte Straßenlampe“ wird umgesägt und gefällt
  • 25.08. Zum ersten Mal fährt ein Wasserwerfer vor, die Polizei zieht Schusswaffen
  • 28.08. MeToo Protest im Charter Garden gegen sexuelle Belästigung der Demonstrantinnen durch die Polizei
  • 29.–30.08. Dem Protest am Samstag wird die Erlaubnis verweigert. Eine Welle von Festnahmen prominenter Demokratieaktivist*innen, darunter auch Joshua Wong und Agnes Chow
  • 30.08. Reuters leakt, dass China Carrie Lam im Laufe des Sommers untersagt habe, auf die Forderungen einzugehen
  • 31.08. Fünfter Jahrestag des Beginns der Occupy-Bewegung, große Proteste ohne offizielle Erlaubnis
  • 31.08. Abends: Polizei sperrt Prince Edward ab, greift in der U-Bahn brutal Leute an (s. Video unten, diese Bilder vergisst so schnell niemand in Hongkong); seitdem Gerüchte, sie hätten jemanden umgebracht
  • 04.09. Carrie Lam kündigt an, das Auslieferungsgesetz zurückzuziehen
  • 06.–07.09. Proteste in MongKok, nahe Prince Edward, die U-Bahn-Station ist jetzt eine Gedenkstätte für die Attacken vom 31.08.
  • 08.09. Protest vor der US Botschaft. Tränengas in Causeway Bay am Abend, Pfefferspray wird direkt gegen Journalist*innen eingesetzt

Video vom 31.08., CN: Gewalt

II. Einordnung

Warum die Proteste trotz Lams Zugeständnis weitergehen. Wenn ich diesen Text nicht für ZEIT Campus geschrieben hätte, hätte ich diese Fragen heute im Newsletter aufgegriffen, von daher ist hier eine ganz grundlegende FAQ zu den Protesten in Hongkong. Allem voran: Warum demonstrieren die Leute weiter, obwohl Lam das Auslieferungsgesetz zurückgenommen hat? Dass diese Frage in Deutschland immer wieder aufkommt, ist, glaube ich, auch ein Versäumnis der Berichterstattung, die sich sehr auf das Auslieferungsgesetz konzentriert hat, dass Auslöser der Proteste Anfang Juni war. Die Tatsache, dass die Forderungen sich seitdem deutlich weiterentwickelt haben, ist oft untergegangen – insbesondere, dass die Forderung nach Aufarbeitung der Polizeigewalt mittlerweile zur Hauptforderung geworden ist, die die Leute auf die Straße treibt.

Xifan Yang, Chinakorrespondentin der ZEIT, ist etwas skeptischer und schiebt die weiteren Proteste auch auf ihre „nihilistische, düstere Eigendynamik.“ Ich könnte mir vorstellen, dass sie zumindest etwas an Dampf verlieren, falls auf die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung eingegangen wird, aber wir werden sehen.

Hongkonger*innen kommen zu Wort: “Was haben wir denn noch zu verlieren?” Es ist leicht, die Demonstrierenden in Hongkong zu kritisieren, aber schwieriger, zu versuchen, sich wirklich in ihre Situation hinein zu versetzen. Ich habe für ZEIT Campus Demonstrierende zwischen 18 und 26 interviewt, die hier in vier Protokollen erzählen, wie sie ihre Ausrüstung vor ihren Eltern verstecken, wie man sich an Tränengas gewöhnt, wie verletzte Mitschüler*innen sie auf die Straße getrieben haben, und warum sie, auch wenn sie Erfolg für unwahrscheinlich halten, seit Juni immer wieder auf die Straße gehen.

Sie können es nicht verstehen, sie können es nicht begreifen, sie können es nicht sehen.“ Wenn ihr etwas auf Englisch zu Hongkong lest, sollte es diese Rede von Brian Leung sein, seines Zeichens Doktorand der Politikwissenschaften und einziger Demonstrant des Sommers bisher, der am 1. Juli im gestürmten Legislativrat seine Anonymität aufgegeben hat. Er verdammt die Regierung und spricht darüber, was es für ihn bedeutet, Hongkonger zu sein: „Sie können nicht verstehen, warum junge Leute bereit sind, ihr Wohlergehen für eine bessere Zukunft aufzugeben. Sie können die unglaubliche Kraft von Selbstorganisation und Spontanität einer freien Gesellschaft nicht begreifen. Sie können Ideale und Würde nicht sehen, nur das Verfolgen materielle Interessen und das Streben nach Macht.“

Die Maske, die ich jedes Wochenende trage.“ Karen Cheung schreibt in der New York Times über die Parallelwelten, in denen sie in Zeiten der Proteste lebt: Proteste an den Wochenende und im Netz, bei denen jede Person anonym ist, und die „normale“ Welt, in der sie sich permanent fragt, auf welcher Seite die Leute stehen, denen sie im Restaurant oder auf der Straße über den Weg läuft.

Vertrauensverlust in die Polizei. Ein kurzer geschichtlicher Abriss zur Hongkonger Polizei, in dem es um die Ereignisse geht, die seit Juni zu einem massiven Vertrauensverlust gesorgt haben. Der Knackpunkt: „Die Polizei schützt nicht mehr Bürger*innen, sondern die Regierung.“ Behaltet das im Hinterkopf, dieses Problem wird der Hongkonger Regierung auf absehbare Zeit weiter Kopfschmerzen bereiten.

Das Hongkong-Dilemma. Evan Osnos ist legendärer ehemaliger Chinakorrespondent des New Yorker und beschreibt sehr gut, warum Hongkong ein Dilemma für China darstellt: China möchte mehr Kontrolle, doch genau diese zunehmende Kontrolle ist es, die Hongkonger*innen auf die Straße treibt. Auch er analysiert nochmals, warum China vermutlich nicht direkt eingreifen wird: a) Die chinesische Wirtschaft wackelt und auch wenn Hongkong nicht mehr so wichtig ist wie früher, ist es immer noch ein Finanzzentrum Chinas, b) eine gewaltsame Niederschlagung würde Chinas Ruf international erneut ruinieren, den Xi so verzweifelt wiederherzustellen versucht, c) Blutvergießen in Hongkong könnte den 70. Gründungstag der Volksrepublik am 1. Oktober überschatten und die taiwanesischen Wahlen (s. unten) in eine antichinesische Richtung beeinflussen.

Eine Geschichte Hongkongs in Bildern. Guter Beitrag bei National Geographic – leicht zu verdauen und erinnert nicht nur an die Kolonialgeschichte, sondern auch an ein paar der wichtigen Proteste der letzten 20 Jahre seit Hongkong offiziell wieder Teil von China ist. Immer wieder wichtig: Hongkonger*innen demonstrieren seit Jahren immer wieder gegen China und für echte Demokratie. Diese Geschichte muss man im Hinterkopf haben, um das Ausmaß an Frust gerade zu verstehen.

🇹🇼

Netflix aus Taiwan. Die Filmindustrie in China ist relativ restriktiv (s. auch FOW024), aber es gibt immer mehr Nachfrage für chinesischsprachige Fernsehserien oder Filme. Die Lösung? Netflix produziert drei Fernsehserien in Taiwan. Besonders spannend klingt meiner Meinung nach Triad Princess, das tolle Kampfszenen und eine starke weibliche Hauptfigur verspricht.

Häh, Wahlen in Taiwan? Falls ihr taiwanesische Parteipolitik immer noch verwirrend findet, haben wir zwei jeweils einstündige Einführungen zum Thema in Podcastform: Eine zu den aktuellen Wahlen vom Juli und eine vom Januar 2018, in der aber auch das Parteisystem ausführlich erklärt wird. Nach der ersten Stunde solltet ihr den Wahlen gut folgen können und verstehen, worum es geht. Falls ihr lieber lest, habe ich auch ein paar Sachen zu den Wahlen für die ZEIT aufgeschrieben, aber mit deutlich weniger Hintergrund zum Parteiensystem. Auch dieser Stanford-Text zu Wahlmanipulationen hat eine kurze schriftliche Einführung zum politischen System Taiwans.

tl;dr. Die DPP ist eher chinakritisch, ein bisschen progressiver und stellt die aktuelle Präsidentin Tsai. Die KMT ist eher chinafreundlich, etwas konservativer und schickt mit Han Kuo-yu einen sehr chinafreundlichen, populistischen Kandidaten ins Rennen. Dazu gibt es eine Reihe Leute, die vielleicht kandieren werden, sich aber noch nicht entschieden haben.

Chinesische Wahlmanipulation in Taiwan 101 (nicht das Hochhaus). Seit die taiwanesischen Wahlen am Horizont zu sehen sind, gibt es Diskussionen über mögliche Wahlmanipulationen durch China. Die KPCh hat ein klares Interesse an einer chinafreundlichen KMT-Regierung. Das Cyber-Center der Stanford Uni hat einen guten Überblick über die aktuelle Situation verfasst, in dem es darum geht, welche Strategien China für einen Angriff auf das taiwanesische Wahlsystem nutzen könnte. Ein Caveat: Der Text erwähnt Facebookgruppen, die Han in seiner Wahl zum Bürgermeister von Kaohsiung unterstützt haben. Aber Gruppen mit Chines*innen als Admins sind nicht das Gleiche wie Manipulation durch den chinesischen Staat – diese Unterscheidung sollte man auch generell im Auge behalten.

Zahlen: Terry Gou tritt (vermutlich) an. Terry Gou, seines Zeichens Foxconn-Gründer und reichster Mann Taiwans, hat im Juli das Rennen zum KMT-Kandidaten gegen den sehr pro-chinesischen Han Kuo-yu verloren und war seitdem eher still. Jetzt hat er sich endlich geäußert und sagt im Wesentlichen, dass die Parteien aufhören sollten, über Politik zu reden und sich auf das konzentrieren sollten, was die Wirtschaft wachsen lässt. Es klingt also ein bisschen so, als würde auch er an den Wahlen teilnehmen wollen, aber offiziell ist es noch nicht. Gou ist in Taiwan aus ähnlichen Gründen beliebt aus denen bspw. Trump bei vielen Chines*innen gut ankommt: Er gilt als „self-made man“ und guter Geschäftsmann.

Umfragedaten: Tsai im Aufschwung. Wenn man aussagekräftige Umfragedaten haben möchte, ist es sinnvoll, sich Daten über einen Zeitraum hinweg anzuschauen, in dem immer wieder die gleichen Fragen mit der gleichen Methode gestellt wurden. Diese Daten zeigen dann trotzdem nicht die Wahrheit™️, aber dafür relativ verlässlich, welche Trends es gibt. Nathan Batto macht das für die taiwanesischen Präsidentschaftswahlen von Februar bis August und zieht im Wesentliche zwei interessante Schlüsse: 1) Seit Februar gibt es einen relativ konstanten Aufwärtstrend für Tsai und 2) wenn Gou antritt wird er vermutlich mehr Stimmen von Tsai als von Han stehlen und so Tsais Wiederwahl deutlich erschweren.

Meinungen zu Hongkong. Der Umgang mit China ist vermutlich die wichtigste Frage der taiwanesischen Präsidentschaftswahlen, besonders da KMT-Kandidat Han Kuo-yu im Gegensatz zu Präsidentin Tsai für eine sehr nach China ausgerichtete Politik steht. Als ich im Sommer in Taipei war, meinte meine alte Chinesischlehrerin, die beiden Parteien skeptisch gegenübersteht, halb im Scherz: „Unter Han werden wir vielleicht sterben, weil er die KPCh nach Taiwan einlädt, unter Tsai könnten wir sterben, weil die KPCh uns für ihre antichinesische Politik angreift.“ Das ist vielleicht faktisch nicht korrekt, zeigt aber, dass Tsai und Han als zwei Extreme wahrgenommen werden, wenn es um den Umgang mit China geht.

Von DPP-Unterstützer*innen oder Unabhängigkeitsaktivist*innen hört man oft, dass Taiwan solidarisch mit Hongkong sein sollte, da China Taiwan auch mal „Ein Land, Zwei Systeme“ angeboten hat und was heute in Hongkong passiert zumindest als ein Hinweis darauf wahrgenommen wird, wie China mit Taiwan umgehen würde, sollte es jemals Teil der Volksrepublik werden. Entsprechend sollte man große Unterstützung für die Proteste erwarten, aber das Bild ist etwas ambivalenter und Nathan Batto hat natürlich auch darüber geschrieben:

Overall, 57% of respondents said they supported the protests, 19% did not support the protests, and 24% did not have a clear opinion or did not know about the protests.

Auch hier sollten Fans von Umfrageanalysen und -daten sich den gesamten Text durchlesen, aber tl;dr: Junge Leute (bis 39) unterstützen die Proteste besonders, nur bei den Leuten über 60 unterstützen weniger als 50 Prozent die Proteste. Unter Unterstützer*innen der DPP (Tsais Partei) und der NPP (der jungen Partei, die aus der Sonnenblumenbewegung hervorgegangen ist) ist ein erwartungsgemäß hoher Anteil solidarisch mit Hongkong: 80 bzw. 84 Prozent unterstützen die Proteste.


Danke!

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