23. September 2019

Willkommen zur sechsten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltest du über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und dazu gibt es noch Links zur weiteren Lektüre. Falls du diesen Newsletter lesenswert findest, leite ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls du den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommst:

Rückblick. Die taiwanesischen Präsidentschaftskandidat*innen stehen endlich fest! Im Wesentlichen wird es wohl ein Rennen zwischen der amtierenden Präsidentin Tsai und ihrem Herausforderer Han von der KMT werden, mehr Details dazu weiter unten. In Hongkong sind Proteste mittlerweile zur neuen Normalität geworden und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sie in naher Zukunft aufhören werden. Trotzdem gab es auch in den letzten zwei Wochen wieder wichtige neue Entwicklungen, u.a. eine Protesthymne, die schon als neue Nationalhymne gehandelt wird, was die Hongkonger Lokalidentität auf absehbare Zeit weiter stärken wird.

—Katharin & Nils

🇨🇳

Anti-Islam-Kampagne. Es gibt schon seit längerem immer wieder Berichte, dass die repressive Politik gegen Uigur*innen auch andere muslimische Bevölkerungsgruppen in China betrifft. Die New York Times hat einen Überblick über bisherige Berichte. Noch wirkt es etwas unorganisiert, aber es ist ein Zeichen, dass die Partei dem Islam als Religion generell zunehmend skeptisch ist. Warum? Vermutlich als mögliche Quelle für Loyalität, die nicht dem Land, der Regierung und der Partei gilt. Es geht hier nicht nur gegen ethnische Minderheiten, sondern auch gegen beispielsweise die muslimischen Hui, die ethnisch quasi nicht von Han-Chines*innen zu unterscheiden sind. Außerdem: Ein Foto-Essay über uigurische Kultur aus Xinjiang.

Chinesische Zensur auf TikTok? Es wird zunehmend vermutet, dass die chinesische Firma hinter der App TikTok Inhalte zensiert, die der chinesischen Regierung nicht genehm sind – auch für ausländische Nutzer*innen. In der Washington Post gab es diese Woche die erste Analyse zu dem Thema, aber soweit ich sehen kann, fehlt es weiterhin an wirklichen Beweisen, dass zensiert wird. Die WaPo argumentiert anekdotisch, dass es auf TikTok deutlich weniger Inhalte zu den Hongkonger Protesten gibt als auf Twitter, aber bisher gibt es nur einen Bericht von einer Person, die sagt, dass ihre Videos zu Hongkong von TikTok gelöscht wurden. Stattdessen kann es gut sein, dass die Demonstrierenden, die chinesischen Plattformen und Firmen misstrauen, sich einfach von TikTok fernhalten. Das heißt nicht, dass TikTok als neutrale Plattform gelten sollte, aber gerade weiß man es einfach noch nicht mit Sicherheit.

Chinesische Twitterbots gegen Hongkong. Twitter hatte im August eine Liste von fast 1000 Accounts veröffentlicht, die laut Twitter Teil einer staatlich gelenkten Desinformationskampagne in Hongkong waren. Am Freitag löschten sie weitere Accounts. Sie haben immer noch nicht verraten, warum sie sich so sicher sind, dass die Tweets von staatlichen Organisationen abgeschickt werden, aber sowohl NPR als auch die New York Times haben interessant Analysen zu den Accounts, die im August geleakt wurden. NPR hat hilfreicherweise auch ein paar der Tweets übersetzt, sodass sich auch Leute ohne Chinesischkenntnisse ein Bild von der Kampagne machen können.

Tweets von Accounts, die Twitter als chinesische Bots gelöscht hat.

Junge chinesische Frauen wollen nicht heiraten. Bisher waren sie auch nicht unbedingt enthusiastisch, aber sie haben bisher selten über ihre Skepsis geredet. Doch ein Weibo-Post einer Regierungszeitung hat für Backlash von jungen Frauen gesorgt, die in ihren Familien starkem Druck ausgesetzt sind, aber eigentlich lieber ihre eigenen Lebensziele verwirklichen würden.

So klingt das chinesische Internet. Ein wunderbarer Musikmix aus dem chinesischen Internet, inklusive Memesongs von vor fünf Jahren, Ausschnitte aus einem marxistischen Porno (NSFW!) und der Hymne der chinesischen Cyberbehörde. Der ganze Mix ist ein Meme, aber als solches sehr unterhaltsam.

Wichtig! Das Maskottchen für die Olympischen Winterspiele in Peking 2022 ist ein Panda auf einem schlechten Trip.

🇭🇰

Die Lage in Hongkong. Die Proteste gehen weiter, sowohl in Form kleiner Flashmobs als auch großer angemeldeter Kundgebungen, die oft frühzeitig und gewaltsam von der Polizei beendet werden. Größere Ereignisse der letzten zwei Wochen: Angriff bewaffneter Männer auf Journalist*innen direkt unter den Augen der Polizei; großer Protest am Löwenfelsen zum Mittherbstfest am 13. September; Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrierenden nach einer Gedenkveranstaltung für die Triadenattacken im Juli am 21. September; und der zunehmende Trend Proteste in Einkaufszentren zu organisieren, wie gestern am 22. September. Die Gerüchte, dass die Polizei am 31. August in der U-Bahn-Station Prince Edward jemanden umbrachten, gibt es weiterhin und die Station ist weiterhin eine Gedenkstelle (s. Tweet von Laurie Chen unten).

Neuesten Umfragen zufolge glauben weiterhin mehr als 70 Prozent, dass die Polizei zu viel Gewalt einsetzt; 75 Prozent, dass die Zugeständnisse der Regierung bisher unzureichend sind. Der Unmut ist gekommen, um zu bleiben. Und was macht die Regierung? Sie hat das Feuerwerk zum chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober abgesagt und erwägt, ein Notstandsgesetz zu aktivieren, um die Befugnisse der Polizei zu erweitern.

Joshua Wong auf Deutschlandbesuch. Wong hat u.a. Heiko Maas getroffen, wofür die deutsche Regierung wiederum aus China kritisiert wurde. Auch wenn deutsche Medien Wong fälschlicherweise immer wieder als Anführer der Proteste bezeichnen: Wong ist nicht Anführer der Proteste. Egal, wie verzweifelt westliche Medien nach einer Heldenfigur suchen, die Bewegung ist weiterhin führungslos und basiert auf direkter Demokratie.

Lausan: Linke, dekoloniale Perspektiven zu Hongkong. Mein Kollege Wilfred Chan, der schon vor einigen Wochen eine Analyse zur Situation in Hongkong aus linker Perspektive geschrieben hat, hat mit einer Gruppe von Journalistinnen und Aktivistinnen Lausan gestartet. Die Seite ist als Plattform für linke Perspektiven und Diskussionen zu Hongkonger Politik gedacht. Englischsprachige Diskussionen zu Hongkong drehen sich oft vor allem um westliche Perspektiven und es fehlt der Linken sowohl in den USA als auch in Europa oft an einer kohärenten, überzeugenden Außenpolitik, die nicht im Kalten Krieg feststeckt. Weder britischer Kolonialismus noch chinesische Kontrolle scheinen die Antwort für Hongkong zu sein – wie könnte ein dritter Weg aussehen? Was kann man einem autoritären, kapitalistischen Staat wie China entgegensetzen? Lausan soll dieses Nachdenken befördern und neue Perspektiven eröffnen. Bisher finden sich dort u.a.: eine Analyse zum Hong Kong Human Rights and Democracy Act, den die Protestierenden in den USA durch den Kongress bringen wollen; eine weitere Analyse in Übersetzung; sowie ein Text über die Rolle von Arbeitsmigrant*innen.

Symphonieorchester Version Black Blorchestra“: „Ehre sei Hongkong

Hongkongs neue Nationalhymne. Eine der neuesten und bedeutendesten Entwicklungen der letzten zwei Wochen in Hongkong ist die rasante Verbreitung von „Ehre sei Hongkong“, einer melodramatischen Hymne für die Stadt, quasi eine Nationalhymne (s. Video oben für Orchesterversion, Version mit englischen Untertiteln hier). Die Musik wurde anonym komponiert, der Text dazu kollektiv auf der reddit-ähnlichen Plattform LIHKG geschrieben. Neuerdings treffen sich große Gruppen von Demonstrierenden in Einkaufszentren, um dort gemeinsam die neue Hymne zu singen (s. Tweet unten). Auf die Hymne angesprochen meinte ein Freund von mir: „Alle Leute, die ich kenne, haben beim ersten Hören entweder geweint oder hatten Tränen in den Augen.“ In der NYT schreibt Vivienne Chow, warum das Lied bei vielen so starke Emotionen auslöst: „Ich habe mein ganzes Leben auf ein Lied wie »Ehre sei Hongkong« gewartet, ich wusste es nur nicht.“

Amnesty International verurteilt die Hongkonger Polizei. Internationale Medien und Hongkonger Demonstrierende kritisieren die Polizei in Hongkong schon seit Wochen für ihren Umgang mit friedlichen Demonstrierenden, jetzt hat Amnesty eine eigene Analyse zu dem Thema veröffentlicht. Darin heißt es, sie haben Beweise gefunden, dass die Polizei „regelmäßig vor und nach Festnahmen willkürlich Gewalt anwendet.“ Das komplett zerstörte Vertrauen zwischen Staat und Polizei auf der einen, und Demonstrierenden und Bevölkerung auf der anderen Seite ist weiterhin einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Leute auf die Straße gehen.

Protestkunst aus Hongkong. Memes und Kunst waren schon 2014 ein wichtiges Kommunikationsmittel politischer Botschaften, doch dieses Jahr scheinen die Proteste noch mehr davon zu produzieren. Eine erste Onlinesammlung gibt es hier, allerdings leider ohne Erklärungen zum teils obskuren Kontext. Ein paar hatte ich Mitte August für ZE.TT gesammelt und erklärt.

🇹🇼

Die Kandidat*innen stehen endlich fest! Am 17. September war die Deadline für Kandidat*innen, die an den Präsidentschaftswahlen in Taiwan teilnehmen wollen. Tatsächlich haben sich weder Taipeis Bürgermeister Ko noch Foxconn-Millionär Terry Gou als unabhängige Kandidaten registriert! Vor allem, dass Gou nicht antritt, ist überraschend. Falls euch eine Analyse interessiert, gibt es hier eine von Nathan Batto. Aber im Wesentlichen: Es werden ein paar eher unbekannte Leute antreten, sodass es im Wesentlichen nach einem Rennen zwischen Präsidentin Tsai Ing-wen von der DPP und ihrem Herausforderer Han Kuo-yu von der pro-chinesischen KMT aussieht. Gewählt wird am 11. Januar 2020, bis dahin ist Wahlkampf angesagt.

不亦樂乎?Am 17. September gab es noch eine sehr unterhaltsame und ebenso verwirrende Meldung zu Taipeis Bürgermeister Ko: Angeblich wurden seine Eltern von einer Abgeordneten zur entsprechenden Behörde geschleppt, um dort ihren Sohn als Kandidaten registrieren zu lassen. Allerdings kam Ko kurz darauf persönlich vorbei, um seine Eltern wieder abzuholen. Also, falls ihr denkt eure Eltern seien peinlich – zumindest haben sie nicht versucht, euch gegen euren Willen als Präsidentschaftskandidat*in zu registrieren.

Datenbank für Taiwan-Expert*innen. Falls ihr journalistisch oder anderweitig nach Taiwan-Expert*innen sucht, gibt es dafür jetzt eine eigene, nach Themenbereichen geordnete Datenbank.


Danke!

Falls du diesen Newsletter lesenswert findest, leite ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls du den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommst:

Wer sind wir? Dieser Newsletter ist Teil von Fernostwärts, dem besten und ältesten deutschsprachigen Asienpodcast. Fernostwärts besteht aus Katharin Tai und Nils Wieland. Wir produzieren unseren Podcast und diesen Newsletter, weil wir uns für das Zeitgeschehen in Ostasien interessieren und unser Wissen dazu teilen möchten. Nils studiert im Master Sinologie an der Uni Hamburg, Katharin promoviert am MIT zu chinesischer Außen- und Netzpolitik und arbeitet als freie Journalistin. Katharin schreibt den Newsletter, Nils macht das Lektorat.

Spenden? Wir freuen uns über Spenden! Über PayPal kannst du uns gerne bei der Anschaffung neuer Aufnahmetechnik unterstützen oder uns finanziell für die Zeit danken, die wir in den Newsletter stecken. Falls du uns monatlich unterstützen willst, kannst du das bei Steady tun. Falls du PayPal und Steady nicht magst, freuen wir uns auch über Überweisungen. Kontoinhaberin Katharin Tai, IBAN: DE93 1101 0100 2936 6357 47, BIC: SOBKDEBBXXX. Diese Informationen sind auch auf unserer Website zu finden.

Unser Versprechen: Unsere Beraterverträge und Schiffsrenovierungen sind kostengünstig, sodass wir uns hoffentlich bald neue Mikros und ein neues Aufnahmegerät leisten können.