28. Juli 2019

Willkommen zur zweiten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hong Kong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter gut und informativ fandet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Falls ihr Feedback habt, schreibt uns eine Mail oder twittert uns an. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:

Rückblick. Seit der letzten Ausgabe ist vor allem in Hong Kong viel passiert, wo unbewaffnete Zivilist*innen von einem Schlägertrupp zusammengeschlagen wurden, und in Taiwan, wo die KMT endlich ihren Präsidentschaftskandidaten bekanntgegeben hat. China hat ein paar offizielle Dokumente veröffentlicht, aber generell ist das Festland gerade eher ruhig – auch die KP braucht mal Sommerpause. Außerdem vielen Dank an alle, die uns in den letzten Wochen schon mit Spenden für neue Aufnahmetechnik unterstützt haben!

🇨🇳

Lager in Xinjiang. Die chinesische Regierung versucht weiter, ihre Politik in Xinjiang zu legitimieren, und hat ein White Paper zum Thema herausgebracht, in dem sie u.a. andeuten, dass Uigur*innen der Islam aufgezwungen worden sei. Schwerwiegender ist allerdings, dass sie auch 37 Länder dazu gebracht haben, in einem offenen Brief explizit Unterstützung für die chinesische Politik in Xinjiang auszusprechen und darin sogar zu betonen, dass die Menschenrechte der dortigen Anwohner*innen geschützt würden. Beides ist vermutlich eine Reaktion auf einen offenen Brief vom 10. Juli, in dem 22 Länder (darunter auch Deutschland) China für seinen Umgang mit Uigur*innen kritisiert hatten. Zur Erinnerung: Teil der chinesischen Politik in Xinjiang ist es u.a., Uigur*innen für Kleinigkeiten wie das Tragen eines Bartes in Umerziehungslager zu stecken.

Alle Jahre wieder: Chinas Verteidigungsstrategie. Einmal pro Jahr veröffentlicht China ein White Paper zu seiner Verteidigungsstrategie, das einen der seltenen Einblicke in das strategische Denken der Regierung und der Volksbefreiungsarmee bietet. Es ist wichtig, das Dokument jeweils im Vergleich zu seinen Vorgängern zu lesen, um mögliche Veränderungen und Kontinuitäten nachvollziehen zu können. Der wohl bekannteste Spezialist zum Thema ist Taylor Fravel am MIT, der auf Twitter attestiert, dass die 2019-Version wenig Neues zu bieten hat, aber u.a. Hong Kong und Taiwan stärker als zuvor als Teil chinesischer Sicherheitsinteressen betont.

Die Huawei-Saga geht weiter. Huawei macht sich weiter keine Freunde. Journalist*innen in Tschechien berichten, dass Huawei in Tschechien persönliche Daten über Geschäftsleute und Politiker*innen an die chinesische Botschaft weitergegeben hat. Die Washington Post berichtet außerdem, dass Huawei anscheinend der nordkoreanischen Regierung geholfen hat, ein Mobilfunknetzwerk aufzubauen. Im Artikel steht, dass sie keine Details haben und die genaue Rolle Huaweis unklar ist, aber es könnte sein, dass Huawei damit Sanktionen gegen Nordkorea verletzt hat – nicht gut, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Huaweis CFO Meng Wanzhou in Kanada wegen Verletzung der Iran-Sanktionen festgenommen wurde und vielleicht in die USA ausgeliefert werden wird. Neben den Spionagevorwürfen hört man in den USA auch immer wieder, dass Huawei sich nicht an die Regeln halte (Sanktionen, keine staatlichen Subventionen) und daher Gegenmaßnahmen ergriffen werden sollten – Geschäfte mit Nordkorea werden das nicht besser machen, aber noch steht aus, wie viele Beweise wirklich vorliegen und was die Politik in den USA daraus macht.

Li Peng ist gestorben. Li ist besonders bekannt für seine Rolle in der chinesischen Regierung vor dem Tiananmen-Massaker 1989, als er die Studierende als Volksfeinde bezeichnete.

China kauft (in) Kambodscha ein. Das WSJ berichtet (leider hinter eine Paywall), dass die Regierung Kambodschas China nicht nur einen Marinestützpunkt bauen lässt, sondern der VR auch exklusive Nutzungsrechte für die kommenden 30 Jahre gewährt. Militärisch könnte das ein Problem für die USA sein und passt generell zum wachsenden chinesischen Einfluss in Kambodscha. Sebastian Strangio hat bei Asia Times aufgeschrieben, wie die teils herablassende westliche Politik dazu beigetragen hat, dass China in Kambodscha schnell Fuß fassen konnte. Schon letztes Jahr hat Katharin einen längeren Text zu chinesischen Investments in Kambodscha geschrieben, der ein bisschen Hintergrund zu dem Thema liefert. Spätestens seit eine chinesische Firma de facto Kontrolle über einen Hafen in Indonesien bekommen hat, ist die Reaktion auf Land, das direkt in chinesische Kontrolle übergeht, international immer besonders intensiv.

🇭🇰

Eskalation am 21. Juli. Letzten Sonntag eskalierten die Proteste in Hong Kong gleich doppelt – einmal in Sheung Wan, wo die Polizei erneut Tränengas einsetzte und anscheinend auch mit Plastikpatronen auf Demonstrierende schoss, und gleichzeitig in Yuen Long im Norden der Stadt, wo ein Schlägertrupp aus Männern in weißen T-Shirts Zivilist*innen und Journalist*innen in und nahe der U-Bahn Station angriff. Augenscheinlich hatten sie es auf Protestierende in schwarzen T-Shirts abgesehen, aber letztendlich traf es alle, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es gibt sehr viele Berichte mit expliziten Videos der Angriffe und dabei zugefügten Verletzungen, die deutlich machen, wie schlimm die Situation war, also stellt euch emotional darauf ein, bevor ihr Berichterstattung bei e.g. HKFP lest. Eine Reporterin von StandNews streamte trotz eigener Verletzungen eine Stunde lang die brutalen Ereignisse in der U-Bahn, sodass viele Hong Konger*innen (aber auch Leute hier in Taipei) entsetzt die Gewalt mitverfolgen konnten. Eine Aufzeichnung (CN: Gewalt) gibt es auf YouTube.

Trotz zahlreicher Notrufe und der Liveübertragung mit teils mehr als 150.000 Aufrufen, tauchte die Polizei erst eine halbe bis ganze Stunde nach dem Beginn der Attacke auf, woraufhin sie von wütenden Anwohner*innen in der U-Bahn zusammengeschrien wurde – und wieder abzog, ohne eine einzige Festnahme. Kurz danach gingen die Angriffe um die MRT-Station herum weiter, bis gegen 1 Uhr morgens die Polizei erneut anrückte und wieder niemanden festnahm. Es ist schwer zu beschreiben, wie wütend viele Hong Konger*innen sind, die das Gefühl haben, komplett von der Polizei im Stich gelassen worden zu sein. Ich denke, diesen Moment muss man die kommenden Wochen über im Hinterkopf behalten, um zu verstehen, wie erschüttert das Vertrauen vieler Hong Konger*innen in ihre Regierung und die Polizei ist und vielleicht auch, um zukünftige Eskalationen nachvollziehen zu können.

In einem Livestream der Zeitung “StandNews” versucht die Polizei nach dem Angriff, wütende Anwohner*innen in der U-Bahn-Station zu kontrollieren.

Im Netz wurde sofort spekuliert, dass die Männer in weiß zu den Hong Konger Triaden gehören könnten und wer sich für Zusammenarbeit der chinesischen Regierung mit Gangstern interessiert: Lynette Ong aus Toronto hat ihre Forschung zu dem Thema beim “Made in China”-Journal verständlich zusammengefasst und Louisa Lim hat schon 2014 während der Regenschirm-Revolution über ein ähnliches Phänomen berichtet. Brian Hioe schreibt bei NewBloom über Parallelen zwischen Hong Kong und Taiwan, wo das Organisierte Verbrechen sich auch in der Vergangenheit schon für Festlandchina eingesetzt hat. Falls ihr nur einen Text zum Hintergrund und lokalen Kontext dieser Attacke lest, lest dieses Stück bei HKFP, das auch die Geschichte dieses Teils von Hong Kong erklärt.

Yuen Long Protest am 27. Juli. Um gegen die Gewalt am 21. Juli zu protestieren, wurde der nächste große Protest (gestern) nach Yuen Long verlegt. Offiziell wurde keine Demo zugelassen, aber stattdessen wurde die Aktion schnell als „Shopping Trip mit voller Ausrüstung“ oder „Pokémon Go“-Event umdefiniert. Nach mehreren Stunden, in denen Demonstrierende Yuen Long verstopften, wurde der Stadtteil gegen Abend teils gewaltsam von der Polizei geräumt. Kritik an der Polizei gab es u.a. für den Einsatz von Tränengas inmitten einer Wohngegend mit mehreren Altersheimen – und dafür, dass sie abends die U-Bahn-Station stürmten, von der aus Leute nach Hause fuhren, dort unbewaffnete Demonstrierende angriffen und mitten in der Station Tränengas und Pfefferspray einsetzten.

Video vom Polizeieinsatz in der U-Bahn.

Protest aus wirtschaftlicher Verzweiflung: Die New York Times berichtet über die wirtschaftlichen Gründe für die Proteste in Hong Kong – keine wirtschaftliche Perspektive, horrende Miet- und Wohnungspreise und inakzeptable Arbeitszeiten. Auch in unserer Folge zu den Protesten mit ZEIT-Korrespondentin Xifan Yang haben wir darüber gesprochen, dass die Proteste sich aus einer tiefen Verzweiflung speisen, die weit über das Auslieferungsgesetz hinausgeht.

Proteste der Memes und des Graphic Designs. Jennifer Creery hat für HKFP einige der tollen Grafiken der Proteste zusammengetragen und generell solltet ihr ein Auge auf die Ästhetik der Protest haben – viele der Demonstrierenden sind jung, „internet-affin,“ wie deutsche Medien es so gerne nennen, und wissen, wie man viralen Content produziert, der dann auf Twitter, Facebook, Telegram oder via AirDrop in der U-Bahn rasend schnell die Runden macht. Ist auch strategisch spannend, wie in Windeseile Informationen interessant verpackt und verteilt werden.

Add Oil, Hong Kong!-Grafik aus einer der vielen Demo-Koordinationsgruppen

🇹🇼

Wie im letzten Newsletter angekündigt hat die KMT am 15. Juli ihren Kandidaten für die taiwanesischen Präsidentschaftswahlen benannt: Kaohsiungs Bürgermeister Han Kuo-Yu 韓國瑜. Die Parteien bestimmen ihre Kandidat*innen durch Telefonumfragen, in denen sie Haushalte anrufen und fragen, für welche Partei sie stimmen würden, wenn verschiedene Kandidat*innen antreten würden. Han hat Foxconn-Besitzer Terry Gou 郭台銘 hier mit fast 50% mit großem Abstand geschlagen, aber das bedeutet nicht, dass er unheimlich beliebt sei: Da die KMT-Umfrage keine Mobiltelefone miteinbezieht, ist sie extrem unrepräsentativ und spiegelt vermutlich vor allem die Stimmung unter der älteren Bevölkerung wider. Außerdem können an der Umfrage alle Leute teilnehmen, die angerufen werden, unabhängig von ihrer Parteimitgliedschaft, und es gibt Gerüchte, dass DPP-Wähler*innen strategisch gesagt haben, dass sie für Han stimmen würden, weil sie glauben, dass er der leichtere Gegner für Präsidentin Tsai Ying-Wen 蔡英文 ist.

Gou hat bisher – trotz diverser Gerüchte – nicht angekündigt, als Unabhängiger anzutreten, von daher sieht es fürs Erste nach einem Rennen zwischen Han und Tsai. Noch ist aber weiterhin offen, ob Taipeis Bürgermeister Ko Wen-Je 柯文哲 auch antreten wird und so als Drittkandidat das Rennen etwas komplizierter machen könnte. Mit der Formosa Alliance wurde letzte Woche außerdem eine neue Partei gegründet, die sich explizit als pro-Unabhängigkeits-Partei identifiziert. Falls sie eine*n Kandidat*in für die Präsidentschaftswahlen stellen, könnte Tsai weitere Stimmen verlieren, die sie dringend für eine Wiederwahl braucht. Mehr dazu am Mittwoch in unser nächsten Folge.

Fun fact: Die ganze Präsidentschaftswahl ist heimlich ein Meme. Hans Name klingt fast wie „koreanischer Fisch“ (im Netz teils abgekürzt als 🇰🇷🐟) und Tsais Name wie „Englisches Gemüse“, was in chinesischem Slang „schlechtes Englisch“ bedeutet.

Unsere nächste Podcast-Folge mit Lev Nachman wird am kommenden Mittwoch (31. Juli) veröffentlicht werden und sich nochmal etwas eingehender mit den taiwanesischen Präsidentschaftswahlen beschäftigen. Eine seiner Einschätzungen für die kommenden Wahlen:

Wenn Han bis zu den Wahlen im Januar einfach nichts tut, könnte er gewinnen. Wenn Tsai bis zu den Wahlen nichts tut, wird sie definitiv verlieren.

Als Hintergrund würden wir euch auch FOW027 ans Herz legen, in der Brian Hioe von New Bloom ausführlich über taiwanesische Politik und das Parteiensystem gesprochen hat. Falls ihr noch mehr zu den Wahlen in Taiwan lesen wollt: Welche Rolle werden die Proteste in Hong Kong spielen?

Chinesischer Einfluss in taiwanesischen Medien. Die FT berichtet (hinter ihrer Paywall), dass die taiwanesische festlandfreundliche Zeitung China Times per Telefon direkt Anweisungen von der chinesischen Regierung bekommt, wie sie in Taiwan zu berichten hat. Chinesischer Einfluss in taiwanesischer Politik ist immer wieder ein Thema, aber Beweise für einen derart direkten Einfluss gab es bisher nicht. Die Mediengruppe Want Want, zu der China Times gehört, hat jetzt gedroht, die FT zu verklagen. Smooth.

Woanders

Wir schreiben ja eigentlich nur über Taiwan, Hong Kong und China, aber ihr solltet wissen:

  1. Dass Shinzo Abes Partei (LDP) in Japan in den Wahlen für das Oberhaus ihre Mehrheit behalten, aber ein paar Sitze verloren hat.
  2. Dass Japan und Korea sich gerade auch in einem Handelskrieg befinden.
  3. Dass in Myanmar anscheinend weiter Rohingya-Dörfer zerstört werden.

Danke!

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