14. Oktober 2019

Willkommen zur siebten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:

Rückblick. Diese Woche gibt es den Newsletter krankheitsbedingt leider arg verspätet. Die Volksrepublik China ist 70. Jahre alt geworden und am 10. Oktober jährte sich der Wuchang-Aufstand, der 1911 die Xinhai-Revolution lostrat, die schließlich zur Abdankung des chinesischen Kaisers führte. Die Rivalitäten zwischen offiziellen Feierlichkeiten und anhaltendem Protest führten in Hongkong nicht zum lange befürchteten massivem Gewalt-, Polizei- oder sogar Militäreinsatz. Vereinzelt kam es aber zu massiver Polizeigewalt. Zum ersten Mal wurde im Rahmen der Proteste auch ein Demonstrant mit scharfer Munition angeschossen, der zum Glück überlebte.

—Katharin & Nils

🇨🇳

Nationalfeiertag am 1. Oktober. Die Volksrepublik hat ihren 70. Geburtstag mit einer gigantischen Militärparade gefeiert, für die das gesamte Pekinger Stadtzentrum abgeriegelt wurde. Während in China alle VPNs aus waren und das ganze Land patriotisch rot und gold gefärbt wurde, wurde an anderer Stelle viel über chinesischen Nationalismus und die komplizierten Gefühle geschrieben, die viele Chines*innen ihrer Heimat gegenüber haben: Auf ChinaFile hat die aus China stammende Yangyang Cheng einen Brief an ihr Heimatland veröffentlicht, in dem sie die komplexe Geschichte Chinas sowie ihre eigene Geschichte unter die Lupe nimmt und ihre Gefühle reflektiert. Auch Chinese Storytellers hat eine sehr gute Newsletter-Ausgabe zu dem Thema, mit einem persönlichen Zugang von Kiki Zhao.

Auch dieser Thread zur zunehmend erstickenden politischen Situation in China ist in dem Zusammenhang einen Blick wert:

https://twitter.com/muyixiao/status/1183082755195854850

Handelskrieg eskaliert vor sich hin. Die USA haben acht chinesische Firmen auf eine schwarze Liste gesetzt und Visarestriktionen für eine Reihe chinesischer Politiker angekündigt, die an der Unterdrückung von Uigur*innen in Westchina beteiligt sind. MIT Technology Review hat eine knackige Übersicht zu der Frage, warum es so viele KI-Firmen trifft. Damit sind die USA das erste westliche Land, das Sanktionen im Zusammenhang mit der Situation in Xinjiang verhängt. Zwei Tage später gingen die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen zum Handelskrieg weiter – Trump glaubt, einen „Deal“ mit der chinesischen Seite abgeschlossen zu haben, in China wird nur von „erheblichen Fortschritten“ gesprochen.

Chinesische Propaganda – im NDR. Der NDR kooperiert seit 2017 mit dem chinesischen Staatssender CGTN, der u.a. die Demonstrierenden in Hongkong mit islamistischen Terroristen verglichen hat. CGTN ist das englischsprachige, neue Gesicht chinesischer Propaganda und kommt etwas subtiler daher, als innerchinesische Propaganda. Am ehesten könnte man den Sender vermutlich mit RT vergleichen, der Ähnliches für Russland macht.

Wang Shuping ist gestorben. Wang war eine Medizinerin, die maßgeblich zur Bekanntmachung der HIV-Epidemie im ländlichen China in den 90er-Jahren beitrug. Damals wurden mehrere hunderttausend Menschen durch verunreinigte Blutspendegefäße infiziert.

Zensur auf TikTok. In der letzten Ausgaben hatten wir über Gerüchte geschrieben, dass TikTok die Hongkonger Proteste zensiert, doch damals fehlte es noch an Beweisen. Jetzt wurden die Moderationsguidelines von TikTok geleakt, die es deutlich glaubhafter machen, dass und wie Tiktok auch außerhalb Chinas Inhalte zensiert, um daheim politische Probleme zu vermeiden. TikTok bietet kurze, zu Musik synchronisierte Videos und erfreut sich bei vielen Jugendlichen großer Beliebtheit. Zugleich gilt die App als eine der wenigen chinesischen Erfolgsgeschichten, da sie in kürzester Zeit weltweit Verbreitung fand.

Trotz dieser Zensur gilt TikTok auch als Fenster nach Xinjiang. Uigur*innen nutzen die App, um etwa Szenen aus Xinjiang unter chinesischer Kontrolle oder Trauer über festgenommene Familienmitglieder zu teilen. Der Trick, um der Zensur zu entgehen, ist, dass sie keine Hashtags nutzen können – Aktivist*innen, die diese Videos zusammentragen, verwenden stattdessen viel Zeit darauf, TikToks Algorithmus so zu trainieren, dass er ihnen mehr Videos aus Xinjiang zeigt, die nicht nur aus Propaganda bestehen.

Kurz notiert: weitere Nachrichten aus Xinjiang

  • In China werden jetzt laut AFP auch muslimische Friedhöfe zerstört.
  • Auf China Law Translate gibt es eine Übersetzung zur „Weiterführung der Sinisierung des Islam in China in den nächsten fünf Jahren.“ Der Originaltext stammt von der Chinesischen Islamischen Vereinigung, das offizielle mehr-staatlich-als-religiöse Organ zur Kontrolle der Religion.
  • Für Believer Magazine hat ein Journalist Interviews mit Uigur*innen gesammelt, die Einblicke aus erster Hand ermöglichen.

Chinas feministische Punkgeschichte. Radii China hat eine Geschichte in Comicform der feministischen Punkband HotB veröffentlicht, die im China der 90er-Jahre die männlich dominierte Musikszene Beijings aufgemischt haben.

🇭🇰

Auch nach fast fünf Monaten gehen die Proteste in Hongkong weiter. Auch die Kreativität, die in die Gestaltung der medialen Präsenz der Proteste einfließt, bleibt beeindruckend.

https://twitter.com/lilkuo/status/1174716857611251713

Timeline

In Hongkong haben sich in den letzten drei Wochen die Ereignisse überschlagen, aber es gibt einige wichtige Momente, die man in Erinnerung behalten sollte:

  • 29.09. Kurz vor dem chinesischen Nationalfeiertag setzt die Polizei einen Wasserwerfer erstmals direkt gegen Journalist*innen ein.
  • 01.10. Um den Feierlichkeiten in Beijing etwas entgegen zu setzen und zu zeigen, dass die Vision des kommunistischen China unter Xi in Hongkong nicht willkommen ist, gab es in Hongkong stadtweite Proteste. Dabei wurde zum ersten Mal ein Demonstrant mit scharfer Munition angeschossen – ein 18-jähriger Schüler, der direkt in die Brust getroffen wurde. Die Gewalt, auch seitens der Polizei direkt gegen die Presse, eskaliert soweit, dass einige Publikationen ihre Journalist*innen für den Rest des Tages abziehen und die Berichterstattung beenden.
  • 03.10. Eine indonesische Journalistin wird von der Polizei mit einem Gummigeschoss am Auge getroffen, aufgrund der Verletzung erblindet sie auf diesem Auge.
  • 04.10. Die Regierung kündigt ein Vermummungsverbot an, das in der ganzen Stadt gigantische spontane Proteste auslöst. Demonstrierende beklagen des endgültige Ende des Hongkonger Rechtsstaats. Im Rahmen eines Protestes wird ein 14-jähriger von einem Polizisten, der nicht im Dienst war, angeschossen
  • 05.10. Das Vermummungsverbot tritt in Kraft. Warum das Vermummungsverbot niemanden vom Demonstrieren abhält, ein Flowchart:

  • 10.10. Eine Studentin beschuldigt die Hongkonger Polizei öffentlich, sie nach ihrer Festnahme sexuell belästigt und vergewaltigt zu haben
  • 12.10. Eine pro-demokratische Politikerin wird gewaltsam attackiert – der dritte Vorfall dieser Art seit Beginn der Proteste
  • 13.10. Ein (angeblicher) Demonstrant attackiert einen Polizisten mit einem scharfen Objekt. Seit im August rauskam, dass Polizisten sich als Demonstranten verkleidet auf die Straße begeben, Molotowcocktails werfen und in U-Bahn-Stationen randalieren, ist bei solchen Berichten in Hongkong oft die erste Reaktion, zu fragen, ob der Angreifer ein Polizist undercover war.
  • Nach dem Tod einer 15-jährigen Demonstrantin häufen sich Gerüchte, dass die Polizei heimlich Demonstrierende tötet. Die Beweislage ist fragwürdig, aber auch hier wird wieder der enorme Vertrauensverlust in die Regierung und die Polizei deutlich.

Dieser Kung-fu-Move, der einen Demonstranten im diesen Monat vor einer Festnahme gerettet hat, ist außerdem einer der besten Videoclips von den Protesten bisher (Anmerkung 17.02.2020: Dieser Tweet/Account existiert nicht mehr):

https://twitter.com/HighlandPaddyHK/status/1183285399424126976?s=09

Analysen

Ausländische Firmen zensieren für China. Eine Reihe von Vorfällen löste letzte Woche in den USA allgemein und speziell bei einigen Subkulturen Empörung aus: Nachdem der Manager der Houston Rockets, ein Basketballteam aus den USA, einen Tweet mit Unterstützung für die Proteste absetzte, entschuldige sich die gesamte US-Basketballliga (!), die NBA, und wurde dennoch in China geblockt. Videospielgigant Blizzard hat einen Spieler und zwei Interviewer für einen Zuruf nach Hongkong für ein Jahr blockiert und ihm sein Preisgeld aberkannt (es ihm nach Gegenprotesten aber wiedergegeben). Apple hat eine App gelöscht, mit der Demonstrierende die Position von Polizeieinheiten verfolgen können und Google Play hat ein Role-Playing-Game zu den Protesten gelöscht. Für viele mag das überraschend sein, aber alle Vorfälle sind Teil eines jahrelangen Trends: Firmen, die in China Geld verdienen wollen, beugen sich im Zweifel den politischen Forderungen der chinesischen Regierung. Egal, was sie in ihrer Werbung sagen, im Zweifel zählen Profite. In den aktuellen zwei Folgen von South Park wurden diese Geschehnisse sogleich karikiert, wodurch die Serie in China prompt sorgfältig zensiert wurde.

Hongkong zwischen chinesischem Staatskapitalismus und westlichem Neoliberalismus. Aktivist und Autor Wilfred Chan spricht in einem Interview ausführlich darüber, wie eine linke, postkoloniale Perspektive für Hongkong aussehen könnte. Er erklärt u.a. auch Hongkongs historisches Paradox, da die gesamte Stadt ihre Existenzberechtigung nur von ihrer Nützlichkeit für globale Finanzmärkte ableitet. Lesenswerte theoretische Perspektive, die man sonst so nicht mitbekommt.

Pressefreiheit in Hongkong. Seit Wochen häufen sich Berichte direkter Polizeigewalt gegen die Presse und im Atlantic gibt es einen ersten Überblick zu dem Thema von einer Journalistin, die selbst von der Polizei für das Tragen einer Gasmaske aggressiv angegangen wurde.

Vandalismus mit System? Hong Kong Free Press mit einem Erklärstück zu Vandalismus bei den Hongkonger Protesten, der sich gezielt gegen Ketten richtet, deren Besitzer*innen sich gegen die Proteste ausgesprochen haben.

Handfeste Zahlen. Seit Beginn der Proteste am 9. Juni wurden insgesamt 2119 Personen festgenommen (Stand: 4. Oktober). Ein Drittel der bisher Festgenommenen sind unter 18. Weitere Zahlen sind im folgenden Tweet zusammengefasst.

Desinformationen. Dieser AFP-Factcheck über eine ABC-Fernsehcrew, die im Internet als „CIA-Kommandeure der Hongkonger Proteste“ identifiziert wurden, bietet einen guten Einblick in die Verbreitung von Falschinformationen über die Proteste.

🇹🇼

Taiwan verliert Verbündeten. Bereits im September kündigten die Salomoninseln an, die diplomatischen Beziehungen zur Republik China (Taiwan) zu beenden und stattdessen mit der Volksrepublik zu kooperieren. Von taiwanischer Seite aus als „Bestechung“ gewertet, um pünktlich zum Gründungsfeier der Volksrepublik einen außenpolitischen Erfolg einzufahren, können die diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Honiara auch als Schachzug in den marinen Vorherrschaftsbestrebungen der VR im Südchinesischen Meer und im Pazifik verstanden werden.

Late Night, aber taiwanisch. Late Night als gleichsam unterhaltendes und informierendes Format gibt es in Taiwan inzwischen auch schon seit zwei Jahren. Der junge Brian Tseng moderiert die Night Night Show und hatte dieses Jahr sogar schon die taiwanische Präsidentin Tsai Ing-wen zu Gast. Die Sendung gibt es auch auf YouTube, englische Untertitel inklusive.

Unabhängigkeitsaktivist gestorben. Su Beng, einer der bekanntesten Vorkämpfer für ein unabhängiges Taiwan, ist im Alter von 100 Jahren gestorben. Auf SupChina findet sich eine ausführliche Würdigung seines Lebens und Wirkens, das äußerst anschaulich die taiwanische Geschichte ab den 1930er-Jahren spiegelt.

„Manchmal frisst eine Gesellschaft ihre Jungen, also ihre Mutigsten und Klügsten.“ Das schrieb Brian Hioe bereits im Juli in Bezug auf Brian Kai-ping Leung , der bei der Besetzung des Legislativrats in Hong Kong diesen Sommer seine Maske abnahm und so wortwörtlich zum Gesicht der Bewegung wurde. Dass ihm dafür massive strafrechtliche Konsequenzen drohen, wirft die Frage auf, inwieweit Hongkonger*innen auf Taiwan als sicheren Hafen setzen können. Leung promoviert in den USA und hat Hongkong Richtung USA verlassen, bevor er für seine Beteiligung am 1. Juli festgenommen werden konnte.


Danke!

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