Willkommen zur 21. Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt: Newsletter abonnieren.

Rückblick. Während die Hitze in Deutschland zunimmt, muss China sich mit einem neuen COVID-19-Ausbruch in Beijing herumschlagen, der im Vergleich zu den aktuellen Zahlen in Deutschland allerdings ziemlich harmlos ist. In Hongkong nehmen die Befürchtungen wegen des neuen Sicherheitsgesetzes zu, dessen Inhalt bis zur letzten Minute geheimgehalten werden soll. In Taiwan ringt die Regierung unterdessen damit, wie sie mit Geflüchteten aus Hongkong umgehen soll. Und falls ihr euch einfach mit einem Buch in den Park legen wollt, haben wir im Chinateil drei aktuelle Buchempfehlungen.

—Katharin & Nils

🇨🇳

Die aktuelle Situation. COVID-19 ist zum ersten Mal seit Wochen wieder ganz oben im Chinateil, da es einen neuen Ausbruch in Beijing gibt – vielleicht gibt es auch in China kein Leben nach COVID-19, sondern nur damit.

  • „Neuer Ausbruch mit Rekordzahlen.“ Das bedeutet in Beijing gerade so um die 22 neue Fälle pro Tag (45 am 13. Juni, 7 am 24. Juni). Die täglichen Berichte kann man bei der Stadtregierung einsehen. Ausgangspunkt des neuen Ausbruchs ist wohl ein Großmarkt names Xinfadi im Stadtteil Fengtai. Wie genau das Virus plötzlich wieder in der Hauptstadt auftauchen konnte, ist bisher nicht bekannt, zwischenzeitlich wurde (fälschlicherweise) importierter Lachs dafür verantwortlich gemacht, der dann sehr schnell aus Supermärkten und von den Karten japanischer Sushi-Restaurants verschwand. Der Impuls, irgendetwas oder irgendjemanden von „außerhalb“ für COVID-19 verantwortlich zu machen, scheint wirklich grenzübergreifend zu sein.

  • Klassengesellschaft. Auch wenn man sich die Klassendynamiken des neuen Ausbruchs anschaut, sind Parallelen zur aktuellen Situation in Deutschland schwer zu übersehen: Betroffen waren besonders zu Beginn vor allem wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerungsgruppen, wie Wanderarbeiter*innen oder Angestellte, die in Restaurants für Mindestlohn oder weniger arbeiten – während Beijinger*innen in wohlhabenderen Gegenden sich gerade mal mit ein paar Unannehmlichkeiten herumschlagen mussten.

  • GPS-Tracking. Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen war bisher nicht klar, ob und wie die chinesische Regierung technische Überwachungsmethoden zur Bekämpfung des Coronavirus einsetzt. In Beijing gab es sogar kurz einen kleinen Skandal, als plötzlich ein Gerücht umging, dass die beiden Techfirmen Alibaba und Tencent Bezahldaten mit den Behörden geteilt hätten, um möglicherweise infizierte Menschen zu identifizieren. Beide Firmen dementierten. Allerdings gibt es zunehmend Berichte, dass wohl GPS-Daten genutzt wurden, um mögliche Besucher*innen des Xinfadi-Großmarktes zu identifizieren und zu testen. Mittlerweile werden in der Hauptstadt große Teile der Bevölkerung wohl einfach durchgetestet.

  • Chinas Wirtschaft. Im Wall Street Journal gibt es einen guten Überblick zu der Frage, was wir über die chinesische Wirtschaft post-Corona wissen. Viele prekär beschäftigte Menschen, die ihre Jobs verloren haben, werden in der offiziellen Statistik ignoriert, sodass Arbeitslosenzahlen in Wahrheit vermutlich deutlich höher sind als die offiziellen Zahlen. Insgesamt liefert der Artikel wenig Grund für Optimismus.

Grenzkonflikt zwischen Indien und China. Angesichts der Nachrichtenlage ist fast komplett untergegangen, dass mit Indien und China zwei Atommächte am 15. Juni einen gewaltsamen Zusammenstoß ihrer Armeen hatten, bei denen Leute auf beiden Seiten starben und festgenommen wurden. Die kurze Version: Bei dem Konflikt ging es um ein umstrittenes Stück Land, das seit Jahren weder klar zu China noch zu Indien gehört, und in dem es dank eines wackeligen Waffenstillstands nur selten Zusammenstöße gibt. In den letzten Jahren hat sich die Situation durch Handlungen beider Seiten wohl zunehmend angespannt und ist nun plötzlich eskaliert. Die lange Version, inklusive einer detaillierten Analyse der strategische Überlegungen auf chinesischer Seite, gibt es bei War on the Rocks. Nach aktuellem Wissensstand ist die Eskalation weder eindeutig China noch Indien zuzuschreiben – auch, wenn das in den nationalistisch aufgeladenen Diskursen der jeweiligen Länder natürlich anders klingt.

US-chinesische Beziehungen. Die Enthüllungen von Trumps ehemaligem Sicherheitsberater John Bolton, der gerne sein Buch verkaufen würde, haben (falls wahr) einige der schlimmsten Befürchtungen zu Trumps Beziehung zu China bestätigt. Laut Bolton habe Trump beispielsweise Xi gesagt, er könne ruhig weiter Lager für Uigur*innen in Xinjiang bauen, das sei genau die richtige Strategie. Vermutlich nicht überraschend, aber doch deprimierend, wenn die islamfeindliche Politik zweier Großmächte solche Affirmationen zulässt. Auch interessant: In Beijing hofft man wohl auf eine zweite Amtszeit Trumps, da China trotz allem vom langsamen diplomatischen Untergang der USA profitiert. Auch der Spiegel hatte neulich berichtet, dass Merkel die USA und China zwar zunehmend beide als Supermächte sehe, mit denen man quasi nicht reden könne, aber Xi immer noch ein angenehmer Gesprächspartner als Trump sei.

Zoom-Zensur. Es gab bereits mehrfach Sicherheitsbedenken zur US-amerikanischen Firma, u.a., weil sie zwischenzeitlich auch Anrufe aus dem Ausland über Server in China leitete, wo ein Teil ihres Entwickler*innenteams sitzt. Einige Länder, darunter Taiwan und Deutschland, nutzen die App daher nicht mehr oder nur eingeschränkt in öffentlichen Behörden. Am 4. Juni beendete Zoom ohne Vorwarnung mehrere Gedenkveranstaltungen für das Tiananmen-Massaker und suspendierte sogar die Accounts der Organisator*innen in den USA und Hongkong. Zoom wurde dafür schnell kritisiert, veröffentlichte ein (ehrlich gesagt sehr transparentes) Statement zu dem Thema: Es gab eine Zensurforderung aus China, sie hätten überreagiert und würden in Zukunft dafür sorgen, dass sie im Zweifel Teilnehmede aus China gezielt aus sensiblen Meetings rauswerfen können (was bisher wohl nicht ging). Auch hier macht Zoom im Zeitraffer die Wachstumsbeschwerden eines globalen Techtunternehmens durch, das scheinbar bisher keine Prozesse hatte, um mit Zensur in China umzugehen – und diese jetzt konzipieren und umsetzen muss. Für die Planung solcher Prozesse, die gezielte Zensur erleichtern sollen, gibt es wiederum viel Kritik an Zoom. Die Erfahrung von Firmen wie Instagram oder Twitter zeigt allerdings auch, dass die Alternative vermutlich eine Zensur der gesamten Plattform gewesen wäre – schwieriges Thema.

Black Lives Matter in China? Nach einem kurzen Abstecher zu BLM und Hongkong in der letzten Ausgabe, geht dieses Mal der Blick nach China, wo manche mit Genugtuung, ander mit Unverständnis auf die Proteste in den USA schauen.

  • Übersetzen. Viele junge Chines*innen ärgern sich, dass ältere Generationen die Proteste mit der Kulturrevolution vergleichen, die für viele Chines*innen das einzige Beispiel einer sozialen Bewegung sei – dabei ist es so viel komplizierter! So etwas ist schwer zu erklären in einem Land mit fast keiner offenen Rassismusdiskussion, aber viele versuchen es dennoch. Falls ihr Mandarin-sprechende Freund*innen habt, die die Ereignisse besser verstehen wollen, empfehle ich diese Folge das Podcasts Stochastic Volatility. Darin geht es detailliert um die Proteste und die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ungleichheiten. Auch in anderen Foren versuchen besonders junge, international-orientierte Chines*innen, die Anliegen der Protestbewegung zu erklären und so teils auch Bewusstsein für anti-Schwarzen Rassismus in China zu schaffen.

  • Rassismus in China? Rassismus gegen Schwarze Menschen gibt es auch in China. Durch die immer engeren chinesisch-afrikanischen Beziehungen der letzten Jahrzehnte gibt es nicht nur eine große afrikanische Community in Guangzhou (die bereits von Corona-Rassismus betroffen war), sondern auch Kinder aus chinesisch-afrikanischen Ehen. Diese sind zwar Chines*innen, aber dennoch von üblem Rassismus betroffen, den ein chinesisch-afrikanischer „Schwarzer Junge aus Changsha“ zweisprachig in diesem Artikel thematisiert.

  • Hip-Hop. China ist längst Teil der globalen Popukultur, sei es, weil Hip-Hop in China auch eine zunehmend profitable Branche ist, oder weil viele Chines*innen US-amerikanische Serien lieben. Es fällt daher auf, dass chinesische Hip-Hop-Stars, die von der Schwarzen Kultur des Hip-Hop in den USA profitieren und darauf ihre Karrieren aufgebaut haben, auf chinesischen Plattformen zum Thema BLM schweigen.

Kanadier in China angeklagt. Michael Spavor und Michael Kovrig wurden beide im Dezember 2018 in China festgenommen, kurz nachdem Kanada auf einen internationalen Haftbefehl der USA hin Huawei-Finanzvorstand Meng Wanzhou festsetzte. Die beiden Festnahmen gelten als Vergeltung für die Festnahme Mengs und nachdem Meng kürzlich ihr erstes Gerichtsverfahren in Kanada verlor, geht es nun auch in China weiter: Sowohl Spavor als auch Kovrig werden der Gefährdung der nationalen Sicherheit mit besonderer Schwere angeklagt, die Höchststrafe dafür ist lebenslange Haft. Für einen Eindruck dessen, was die beiden und ihre Familien durchmachen, kann man bei Globe and Mail Ausschnitte aus Kovrigs Briefen nachlesen, die er seiner Familie an einem Tag im Monat schreiben darf.

Leseempfehlungen. Das Wetter ist gut und vielleicht wollen ein paar von euch ja im Park mit Wein (oder ohne) mal etwas Längeres als diesen Newsletter über China lesen. Daher hier drei potentiell spannende Bücher zu China aus den letzten Monaten:

  • Superpower Showdown, von den WSJ-Reporter*innen Lingling Wei & Bob Davis: Sowohl Wei als auch Davis haben in den letzten Jahren immer wieder sehr gut über den US-chinesischen Handelskrieg berichtet, und das Buch ist ein aktueller Rückblick auf die Entwicklungen der letzten Jahre. Gut, wenn man sich für praktische Details der bilateralen Beziehung interessiert. Wei hatte vor einigen Wochen auch einen sehr persönlichen Text darüber geschrieben, wie es ist, aus ihrem Heimatland als ausländische Journalistin ausgewiesen zu werden.

  • Gilded Age, Yuen Yuen Ang. Ang hat mit How China Escaped the Poverty Trap eines der politikwissenschaftlichen Standardwerke zu Wachstum und Wirtschaft in China geschrieben – nun widmet sie sich der Frage, wie es in China sowohl Wachstum als auch Korruption geben kann. Eine Tatsache, die eigentlich dem Standardverständnis wirtschaftlicher Vorgänge widerspricht. Bei Project Syndicate schreibt Ang außerdem immer wieder sehr gute Kolumnen zu chinesischer Politik.

  • The Myth of Chinese Capitalism, Dexter Tiff Roberts. Ich habe im Newsletter immer wieder auf wirtschaftliche Ungleichheit in China hingeweisen, die besonders durch das Coronavirus wieder hervorgehoben wurde. Dexter Tiff Roberts hat den wirtschaftlich benachteiligten Wanderarbeiter*innen der chinesischen Wirtschaft ein ganzes Buch gewidmet: Sie haben durch ihre unermüdliche Arbeit das chinesische Wirtschaftswunder ermöglicht, aber sind oft nicht diejenigen, die davon profitiert haben.

🇭🇰

Festnahmen seit Juni 2019: 9.042 (Stand: 20.06., 104 seit dem letzten Newsletter)
Davon angeklagt: 1.595 (Stand: 20.06., 82 seit dem letzten Newsletter)
Proteste seit März 2019: mindestens 1.080 (Stand: 20.06., 31 seit dem letzten Newsletter)

Die obigen Zahlen stellt der Aktivist Kong Tsung-gan mit öffentlich zugänglichen Quellen zusammen. Anlässlich des einjährigen Jahrestage der ersten Massenproteste hat die SCMP diese Zahlen auch mal eindrücklich visualisiert: Sie zählten bis zum 29. Mai 8.981 Festgenommene, von denen bisher der Großteil immer noch auf ein Verfahren wartet.

Screenshot der SCMP-Grafik zu Festnahmen im letzten Jahr

Neues zum Sicherheitsgesetz. Es steht jetzt offiziell fest, dass der gesamte Text des Sicherheitsgesetzes aus Peking erst veröffentlicht werden soll, wenn es bereits beschlossen wurde – auch die Hongkonger Regierung hat den Gesetzestext wohl noch nicht zu lesen bekommen und verteidigt das Gesetz trotzdem. Allerdings hat am letzten Wochenende der Ständige Ausschuss des Volkskongresses getagt und wohl einen Entwurf für das endgültige Gesetz diskutiert, der wiederum in einem Xinhua-Artikel zusammengefasst wurde. NPC Observer hat mal wieder eine exzellente detaillierte Analyse dazu, falls ihr euch für die Details interessiert. Es ist weiterhin unklar, wie die neuen Straftaten (Subversion, Separatismus, Terrorismus, Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften) definiert werden und was die Strafen dafür sein werden. Was aber zunehmend klar wird, ist, dass Beijing neue Institutionen und Rechtsrahmen schaffen möchte, um sich direkt um Fälle zu kümmern, die ihrer Meinung die nationale Sicherheit bedrohen: In „bestimmten Fällen“ (bisher nicht näher definiert) möchten sie direkt Jurisdiktion über Fälle in Hongkong ausüben, was zu Ängsten führt, dass es dabei zu Auslieferungen nach China kommen könnte. Außerdem sollen spezielle Institutionen geschaffen werden, die sich generell um diese Fälle der nationalen Sicherheit kümmern.

Offiziell sollen wichtige Grundsätze des Hongkonger Rechtssystem erhalten bleiben. Gleichzeitig obliegt die Interpretation des neuen Gesetzes aber auch Beijing – was also sollen Hongkonger Gerichte tun, wenn das neue Gesetz ihrer Meinung nach im Konflikt mit den Grundrechten der Hongkonger Verfassung steht? All das ist noch unklar. Die Stimmung in Hongkong unter vielen Aktivist*innen kann man nur als bedrückt, unsicher und ängstlich beschreiben, da niemand weiß, was hier auf sie zukommt. Es hilft auch nicht, dass die Regierung direkt Richter*innen für Fälle, die unter dieses Gesetz fallen, auswählen können soll; und es gibt Gerüchte über eine eigene Polizeieinheit und gar eigene Gefängnisse, die nur im Rahmen des neuen Sicherheitsgesetzes eingesetzt werden sollen.

Jahrestage: ein Jahr Protest. Seit der letzten Ausgabe gab es noch zwei wichtige Jahrestage: am 12. Juni 2019 setzte die Polizei erstmals Tränengas gegen einen friedlichen Protest ein; am 16. Juni 2019 gingen aus Empörung darüber bis zu zwei Millionen Menschen auf die Straße. Ein Jahr später ist die Situation in Hongkong deprimierend, viele Leute sind frustriert und ausgelaugt und haben Angst um ihre Sicherheit. Ich habe versucht, das Gefühl in diesem Text etwas einzufangen, in dem zwei junge Demonstrantinnen zu Wort kommen, die die aktuelle Gefühlslage gut verdeutlichen. Auch zum Jahrestag gingen Leute auf die Straße, doch viele wurden festgenommen und die Polizeipräsenz schreckte viele andere ab. Der zunehmende Druck durch die Polizei und das Virus haben der Bewegung einen wirklich herben Schlag versetzt. Niemand scheint aufgeben zu wollen, aber wie man wieder Leute auf die Straße bekommt, weiß auch keine*r. Gerade versuchen Aktivist*innen, Menschen für einen großen Protest am 1. Juli zu mobilisieren.

50 Jahre Autonomie? Nicht mit China. Eigentlich endete Hongkongs Dasein als britische Kolonie mit einer Abmachung zwischen China und Großbritannien, die Hongkong 50 Jahre gewisser politischer Autonomie, von 1997 bis 2047, zusicherte. Als Teil des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“ hat Hongkong u.a. Presse- und Versammlungsfreiheit und ist, bis auf Außen- und Verteidigungspolitik, eigentlich eigenständig. Daher argumentieren manche Beobachter*innen, dass Großbritannien nach internationalem Recht die Forderungen an China stellen könnte, damit China diese zugesicherte Autonomie der Stadt bis 2047 einhält – immerhin ist die Abmachung zwischen den beiden Länder ein internationaler Vertrag. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums meinte nun jedoch, der Vertrag sei aus Chinas Sicht nicht rechtlich bindend – beunruhigend, wenn man sich als Hongkonger*in darauf verlassen hat, bis 2047 noch gewisse politische Freiheiten zu behalten.

Ein Sharepic erinnert an den ersten Einsatz von Tränengas am 12. Juni 2019

Schulen unter Druck. Auch das Hongkonger Bildungssystem ist zunehmend politischem Druck ausgesetzt. In den letzten Wochen meinte beispielsweise der Bildungsminister, dass Schulen Schüler*innen bestrafen sollten, wenn sie z.B. politische Slogans rufen oder Menschenketten zum Protest bilden. An einer Schule wurde sogar schon eine Lehrerin gefeuert, weil sie es Schüler*innen im Musikunterricht nicht verboten hatte, „Glory to Hong Kong“, die Hymne der Bewegung, zu singen. Man kann wirklich sagen, dass die Hongkonger Regierung es sich hier mit einer ganzen Generation verscherzt hat: Nirgendwo ist die Unterstützung für die Protestbewegung so groß wie bei den Unter-18-Jährigen, in vielen Umfragen sind es in dieser Altersgruppe teils weit über 90%. Falls euch die Diskussion innerhalb Hongkongs zu diesem Thema interessiert, könnt ihr hier die englische Übersetzung von „Sieben Fragen an diejenigen, die Hongkongs Lehrer*innen lehren wollen“ lesen, eine Kritik an Hongkongs Bildungsminister.

Goodbye, Headliner. Ich hatte schon mehrfach die Satire-Show Headliner im öffentlich-rechtlichen Sender RTHK erwähnt, die jetzt wegen ihrer Kritik an der Polizei abgesetzt wird. Rachel Cheung hat jetzt, anlässlich zum Dreh der letzten Folge, einen wunderschönen Abschiedstext an diese Institution des Hongkonger Fernsehens geschrieben. Angesichts aktueller Diskussionen in Deutschland vielleicht auch nochmal eine Erwähnung wert: Einer der größten Kritikpunkte aus der Regierung war, dass die Sendung die Polizei mit Müll gleichgesetzt hätte. Angesichts der Entwicklungen bei RTHK fürchten nun auch andere Medien in Hongkong um ihre Zukunft als unabhängige Medien und stellen sich auf mehr politischen Druck ein.

Eine Karikatur mit Charakteren der Show Headliner (links der kontroverse Polizist in der Mülltonne, daneben Carrie Lam als chinesische Kaiserin)

Zum Abschluss noch zwei Leseempfehlungen in voller Länge: Rosemarie Ho schreibt in „Structures of Feeling“ über die schwierige Frage, was es eigentlich bedeutet, Hongkonger*in zu sein – und wie die Stadt im letzten Jahr eine neue Identität für sich entwickelt hat. Im Atlantic hat Timothy McLaughlin außerdem ein detailliertes Porträt über Carrie Lam geschrieben, die als Regierungschefin zum Hassobjekt geworden ist, aber letztlich auch auf Weisungen aus China hören muss.

🇹🇼

Hilfe für Hongkong? Wegen der sich verschlechternden politischen Situation erwägen immer mehr Hongkonger*innen auszuwandern – und Taiwan sieht für viele nach einer attraktiven Option aus: Es ist nah, kulturell ähnlicher als die meisten westlichen Länder und chinesischsprachig (Mandarin statt Kantonesisch, aber immerhin Langzeichen). Doch obwohl Taiwan sich gern als freies Gegenstück von China darstellt, ist die Aufnahme Hongkonger Asylant*innen alles andere als selbstverständlich und auch auf der Insel eine komplizierte, hochpolitische Frage. Taiwan hat kein Asylgesetz und somit keine rechtliche Grundlage für politisches Asyl, das es beispielsweise Demonstrierenden aus Hongkong anbieten könnte. Bisher hat die Regierung oft auf bestehende Migrationswege wie ein Investmentvisum hingewiesen, die sich gerade junge Menschen natürlich nur schwer leisten können. Am 19. Juni veröffentlichte die Regierung endlich einen Plan zur Unterstützung von Hongkonger*innen, der die Migration aus politischen Gründen erleichtern soll. Worte wie „Asyl“ werden aber weiterhin vermieden und es wird nicht eindeutig definiert, wer diese Unterstützung beanspruchen kann.

BLM in Taiwan. Auch in Taipei gab es einen großen Black Lives Matter-Protest, der explizit in Solidarität mit den Protesten in den USA stattfand. Gleichzeitig nutzten indigene Bewohner*innen der Insel den Anlass allerdings auch, um auf die Diskriminierung hinzuweisen, die sie weiterhin erfahren.

Quo vadis, Kaohsiung? Nachdem Han Kuo-yu von der chinafreundlichen KMT als erster Politiker Taiwans Anfang des Monats abgewählt wurde, ist der Bürgermeisterposten der südlichen Industriestadt nun neu zu besetzen. Die china-kritische DPP von Präsidentin Tsai Ing-wen schickt jetzt ausgerechnet ihren Vizepremier Chen Chi-mai ins Rennen. Chen hatte 2018 nach Jahren der DPP-Dominanz die Bürgermeisterschaft in Kaohsiung an Han verloren. Die Wahl war ein Erdbeben für die politische Landschaft Taiwans. Am 15. August wählt die Stadt zwischen Chen und Li Mei-jhen von der KMT.


Danke!

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