23. Dezember 2019

Willkommen zur zwölften Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:

Rückblick. In China gibt es keine Weihnachtspause (2014 hatte Katharin am 26.12. sogar eine Klausur an ihrer chinesischen Uni) und so gibt es auch heute einen Newsletter! Die USA und China haben sich angeblich auf einen Handelsvertrag geeinigt, aber wir bleiben skeptisch. Außerdem schreiben wir über die in China sehr häufigen kleinen Proteste und Streiks, von denen wir im Ausland oft nichts hören – warum eigentlich? Da in Taiwan die Präsidentschaftswahlen am 11. Januar näherrücken, gibt es zu diesem Teil heute etwas mehr: zu digitaler Demokratie, chinesischem Einfluss und einer lesbischen Autorin. Außerdem: Es liegt leider außerhalb unserer Expertise, aber wir würden euch auch ans Herz legen, nachzulesen, was in Indien passiert, wo bei Protesten 20 Leute ums Leben kamen und die Regierung in Kashmir seit August das Internet ausgeschaltet hat; und in Myanmar, wo Teile des Landes seit sechs Monaten kein Internet mehr haben. Frohe Weihnachten!

—Katharin & Nils

🇨🇳

Handelskrieg: Endlich ein Deal? Am 13. Dezember kündigten die USA und China an, dass sie sich auf einen „Phase 1 Deal“ geeinigt hätten. Wie einig sich die beiden Regierungen sind, ist allerdings noch unklar. Reuters zählt die Punkte auf, bei denen die offiziellen Verlautbarungen aus China und den USA einige relevante Diskrepanzen aufweisen. So verkündete Trump beispielsweise, dass China zusätzlich US-Produkte im Wert von $200 Milliarden kaufen wird, während China nur von „mehr“ Produkten spricht und noch „Übersetzungen und Korrekturlesung“ abwarten müsse.

Was bedeutet die Einigung? Scott Kennedy von CSIS ist skeptisch, was den Deal angeht und meint im Wesentlichen, dass Trump mit dem Handelskrieg quasi nichts Substantielles erreicht habe. Am chinesischen Wirtschaftssystem wird sich nichts ändern, dafür hat die chinesische Regierung sich durch den Handelskrieg noch mehr als zuvor darauf konzentriert, im High-Tech-Bereich unabhängig vom Rest der Welt zu werden. Gleichzeitig hat Trump möglicherweise eine langfristige Entkopplung der beiden Staaten angestoßen. Dadurch könnten die USA möglichen wirtschaftlichen Einfluss, den sie auf China hatten, verlieren. Ich würde noch hinzufügen, dass der Handelskrieg die schlimmsten Befürchtungen der chinesischen Regierung bestätigt hat: Sie können sich nicht auf die USA verlassen. Wenn man bedenkt, wie wichtig beispielsweise Kooperation der beiden Industrieländer zum Klimaschutz für unsere Zukunft sein wird, ist das eine schlechte Ausgangslage für 2020.

Huawei: Die Krise geht weiter. Das Telekommunikationsunternehmen hatte zwei schlechte Wochen: In Deutschland hat sich die SPD-Fraktion gegen eine Verwendung von Huawei-Technik im deutschen 5G-Netz ausgesprochen, die CDU/CSU wiederum möchte sie nur nicht in „Kernteilen“ der kritischen Infrastruktur. Gleichzeitig macht die chinesische Regierung klar, dass sie Huawei den Rücken deckt, was Spekulationen zu Beziehungen zwischen dem Unternehmen und der Regierung natürlich noch befeuert. In einem Interview mit dem Handelsblatt machte der chinesische Botschafter Ken Wu deutlich, dass ein Ausschluss Huaweis in chinesischen Augen Protektionismus wäre und entsprechende Konsequenzen haben würde.

Telenor (Norwegen) und Telefonica (Spanien) haben beide angekündigt, langfristig möglich wenig Huawei-Equipment in ihren 5G-Netzen zu nutzen, die sie in Norwegen, Spanien und Deutschland bauen. Diese Entscheidungen scheinen vor allem auf politischem Druck zu beruhen, der in den letzten Monaten zugenommen hat – handfeste Beweise für Sicherheitsrisiken gibt es meines Wissens nach immer noch nicht. Langfristig stellt sich die Frage, ob mit ähnlichen Begründungen auch andere chinesische Unternehmen wie Lenovo unter Druck kommen könnten. Für eine Einschätzung der unsicheren Situation würde ich nochmal auf diese Podcastfolge mit Steffen Wurzel im Deutschlandfunk verweisen.

Lager in Xinjiang. Dank der Leaks vor vier Wochen scheint das Thema gerade wieder im öffentlichen Bewusstsein angekommen zu sein. So hat auch Mesut Özil sich nun öffentlich dazu geäußert und wurde prompt aus der chinesischen Version von Pro Evolution Soccer entfernt. Die chinesische Regierung hat AP zufolge auf die Leaks Ende November reagiert, indem sie Dokumente zerstörte und löschte – ein Umdenken hinsichtlich der Lager ist hingegen nicht abzusehen. Für einen besonders lebendigen Einblick in die Angst, die in der uigurischen Community vorherrscht, empfehle ich diese Folge vom Podcast The Daily der New York Times, in der Paul Mozur berichtet, wie er Regierungsüberwachung abschüttelte und sich in Xinjiang mit der Mutter eines uigurischen Aktivisten aus den USA traf, die im Podcast aus erster Hand von den Lagern berichtet und so riskiert, zurückgeschickt zu werden.

Shanghaier Universität streicht Meinungsfreiheit. Zwar nur aus ihrer Satzung, aber die Entscheidung löste dennoch Empörung und sogar einen Protest von Studierenden in der Unikantine aus. Auch online empörten sich viele Absolvent*innen der Uni. Die Soziologin Peidong Sun, die an der Fudan lehrt, weist darauf hin, dass faktisch keine chinesische Uni akademische oder Meinungsfreiheit bieten kann. Dass das Lippenbekenntnis mittlerweile auch offiziell nicht mehr in der Satzung stehen kann und „akademische Freiheit“ nun unter „Patriotismus“ steht, ist für viele ein beunruhigendes Zeichen der zunehmend illiberalen Tendenzen unter Präsident Xi Jinping.

Überwachungssystem der chinesischen Polizei. In Deutschland begegnet mir oft die Annahme, die chinesische Regierung würde das gesamte Land schon lückenlos überwachen. Angesichts dieser Annahme mag diese Geschichte von Paul Mozur nicht beeindruckend scheinen, doch staatliche Überwachung in China ist in Wirklichkeit sehr viel durchlässiger: Es gibt keine Drohnen oder Kameras, die für zentralisierte Systeme jede Person 24/7 tracken. Nun berichtet Mozur allerdings über ein Projekt der chinesischen Polizei, ein landesweites System aufzubauen, das Handys identifizieren kann und diese Daten im Idealfall auch noch mit Video und anderen Daten in Verbindung bringen soll, um so Bildaufnahmen und elektronischen Fußabdruck zusammenzuführen. Gleichzeitig arbeitet die Polizei aber auch gegen eine Bevölkerung an, die alles andere als erfreut über diese Maßnahmen ist. Ein Beispiel sind Türen, die Anwohner*innen mit Brettern aufhalten, weil sie von der neuen Gesichtserkennungssoftware genervt sind (s. Tweet).

MeToo: Chinas antifeministischer Shitstorm. Auch in China gibt es eine MeToo-Bewegung, durch die in den letzten Jahren immer wieder prominente Fälle an die Öffentlichkeit gelangten. Das letzte Beispiel: Die Studentin Liu Jingyao, die 2018 den chinesischen Milliardär Richard Liu (seines Zeichens Mitgründer des Onlinehandelsgiganten JD.com) beschuldigte, sie in Minnesota vergewaltigt zu haben. Wie auch viele Überlebende sexueller Übergriffe in den USA geriet sie in einen gigantischen Shitstorm, nachdem die Anschuldigungen und ihr Name öffentlich wurden. Die Polizei in Minnesota entschied sich aus Mangel an Beweisen gegen eine Anklage. Li Yuan berichtet, wie es Liu sich ein Jahr später vor der Öffentlichkeit in ihrer Wohnung versteckt sowie von den vielen Hürden der chinesischen MeToo-Bewegung. Vor ein paar Wochen hatten wir schon berichtet, warum viele Aktivist*innen vor zunehmender staatlicher Repression ins Ausland fliehen.

Fokus: Proteste, Arbeiterrechte und warum wir so selten davon hören. Ende November und auch letzte Woche gab es große Proteste in der südlichen Provinz Guangdong gegen den Bau eines Krematoriums. Die Polizei ging wiederum gegen diese Proteste mit Tränengas vor. Da Hongkong an Guangdong grenzt, gab es kurz Spekulationen darüber, ob es einen Zusammenhang mit den Hongkonger Protesten geben könnte, aber diese stellten sich als unbegründet heraus. Stattdessen sollten wir uns daran erinnern, dass Proteste in China gar nicht so ungewöhnlich sind. Meist geht es aber nicht um Demokratie, sondern um lokalpolitische Themen wie eben ein Krematorium oder Streitigkeiten zwischen Wanderarbeiter*innen und langjährigen Anwohner*innen, wie 2012 in Zhongshan. Gesellschaftliche Spannungen brechen sich hier oft gewaltsam Bahn, nur um dann von der Polizei unterdrückt zu werden.

Einerseits wird über solche Proteste selten berichtet, weil sie eben sehr lokalpolitisch und oft nicht wichtig genug für internationale Medien sind. Es würde uns auch nicht interessieren, wenn in Frankreich Leute in Le Havre gegen ein Krematorium demonstrieren würden. Meist finden sie auch in kleinen Orten ohne Medienpräsenz statt. Andererseits versucht die chinesische Regierung, Informationen über die Proteste zu unterdrücken. Chuang hat beispielsweise über die Aktivist*innen Lu Yuyu und Li Tingyu geschrieben, die auf einem Blog Informationen über Proteste aus allen Teilen der Gesellschaft in ganz China gesammelt haben und die für ihre Arbeit im Gefängnis landeten (der Artikel analysiert auch die Protestdaten, aber dieser Teil ist sehr theoretisch). Insgesamt entsteht aufgrund dieser Faktoren im Ausland der Eindruck, dass Chines*innen deutlich seltener gegen ihre (Lokal)regierungen auf die Straße gehen, als sie es tatsächlich tun: fast 30.000 Mal im Jahr 2015, wenn man den Daten von Lu und Li glaubt. Wer sich für aktuelle Daten interessiert, kann sich die China Strike Map anschauen, auf der Streiks in ganz China dokumentiert werden.

China Strike Map für den Zeitraum Juni bis Dezember 2019

Ironischerweise sind es tatsächlich auch immer wieder Arbeiter*innen, die unter de Kommunistischen Partei Chinas leiden: Erst vor einer Woche verschwanden in Südchina drei Aktivisten, die sich für die Rechte von Arbeiter*innen im Müllbetrieb eingesetzt hatten. Für die Washington Post berichtet außerdem Gerry Shih von den Arbeiter*innen, die das Cyberpunk-Utopia Shenzhen mitgebaut haben – und jetzt nach und nach an üblen Lungenkrankheiten sterben, die sie sich in den Tunneln unter der Stadt geholt hatten.

Gesellschaft und Politik: „Nationalismus hat meine chinesischen Freundschaften ruiniert“. Wie ist es, als liberale*r Chines*in mit Freund*innen zu sprechen, die Konzentrationslager in Xinjiang verteidigen? Die Chinesin Connie Mei Pickart, die lange in den USA gelebt hat, berichtet aus erster Hand, wie es es sich anfühlte, als alle ihre Freund*innen immer nationalistischer wurden. Besonders eindrücklich fand ich die Diskussionen zu Xinjiang, die auch relevant für Diskussionen im Westen sind. Oft wird angenommen, Chines*innen wüssten nichts von den Lagern. Hier wird aber auch klar, dass Leute durchaus davon wissen, viele es aber für eine akzeptable Maßnahme halten, um die Sicherheit der Region zu gewährleisten. Generell würde ich den Artikel in Gesamtlänge zur Lektüre empfehlen, denn viele der Anekdoten erinnern mich an chinesische Freund*innen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

Weihnachtsmusik. Krish Ragav fasst zehn Highlights chinesischer Indie-Musik der 2010er Jahre zusammen. Darunter ist Rapperin Lexie Liu ebenso wie Elektro und Punk aus Yunnan.

Kurz notiert

  • Die Memes des Jahres. Wie jedes Jahr gibt es auch diesen Dezember Listen mit den wichtigsten chinesischen Memes aus 2019. Falls ihr wissen wollt, was eine „Zitronennymphe“ oder ein „verregnetes Mädchen ohne Melonen“ (nein, nicht das, was ihr denkt) sind, erklärt diese Liste von SixthTone.
  • Beijings Bevölkerung wird kleiner. Rasante und scheinbar endlose Urbanisierung war einer der wichtigsten Trends im China des 21. Jahrhunderts. Doch Preise in den Großstädten steigen, die Polizei geht gegen Migrant*innen vor und auch die Jobs sind nicht mehr das, was sie mal waren. So verlassen immer mehr Leute die Hauptstadt.
  • Chines*innen in Laos. Zwei Doktorandinnen beschreiben Szenen aus der chinesischen Community in Laos, die wichtige Vermittler für chinesische Investments sind und teils schon vor Gründung der Volksrepublik migriert sind.
  • Wie chinesisches Essen in den USA von billig und deftig zu einer Cuisine wie viele andere wurde, die auch mal teuer und gehoben sein und variiert werden kann – obwohl die handgemachten Nudeln von Xi’an Famous Foods in New York für $10 vielleicht das beste Essen der Stadt sind.

Zusammenfassung der Top Memes 2019 von SixthTone

🇭🇰

Schüsse im Einkaufszentrum & Pfefferspray gegen Uigur*innenprotest. Es mag in den Nachrichten eher ruhig aussehen, doch ähnlich wie schon im Zeitraum vom Anfang Oktober bis Mitte November gibt es gerade vor allem wieder viele kleine Proteste, bei denen die Polizei immer wieder gewaltsam eingreift. Zwei Beispiele: Am 15. Dezember setzte die Polizei in einem Einkaufszentrum wieder Gewalt gegen Demonstrierende ein und verletzte u.a. einen Uni-Journalisten am Auge. Am 22. Dezember gab es einen Protest, der Solidarität mit Uigur*innen signalisieren sollte. Nachdem ein*e Teilnehmer*in die chinesische Flagge von einem Fahnenmasten abnahm, musste die Polizei den komplett friedlichen Protest natürlich in voller Ausrüstung stürmen und mit Pfefferspray gegen Teilnehmende und Journalist*innen vorgehen. Auch in den Mittagspausen im Finanzdistrikt gibt es weiterhin immer wieder Proteste.

20.12. Hongkonger Polizei durchsucht Spark Alliance. Die Gruppe hatte Spenden gesammelt, mit denen sie u.a. Festgenommenen mit finanziellen Problem mit ihren Gerichtskosten half oder Coupons für Essen an Demonstrierende verteilte, die ihr gesamtes Geld für Ausrüstung ausgegeben hatten und kein Geld für Essen mehr übrig hatten. Die Polizei wirft der Organisation Geldwäsche vor und hat ihr Konto mit 70 Millionen Hong Kong Dollar (circa 8 Millionen Euro) eingefroren. Da die Organisation auch anonyme Spenden angenommen hatte und nicht namentlich dokumentiert, an wen das Geld verteilt wird, um die Anonymität der Demonstrierenden zu bewahren, könnte es schwierig werden, das Gegenteil zu beweisen.

Hongkonger Medien Eintritt nach Macau verwehrt. Viele Journalist*innen, die über das 20. Jubiläum der Rückgabe Macaus von Portugal an China berichten sollten, wurde am 18. Dezember die Einreise verwehrt. Einer von ihnen war SCMP-Reporter Phila Siu, dem Grenzbeamte sagten, er sei ein Risiko für die öffentliche Sicherheit, aber auch der regierungstreue Fernsehsender TVB war betroffen. Viele der Hongkonger Journalist*innen hatten über die Proteste in ihrer Heimatstadt berichtet. Ein 22-jähriger Hongkonger wurde außerdem auf dem Weg nach Paris bei seinem Umstieg in Shanghai an der chinesischen Grenze abgewiesen, da er die „soziale Sicherheit“ verletzt habe. Er war am 1. Oktober festgenommen worden, weil er Bilder von der Polizei gemacht hatte.

Die unmögliche unabhängige Untersuchung der Polizei. Eine der wichtigsten und beliebtesten Forderungen der Protestbewegung ist weiterhin die nach einer unabhängigen Untersuchung zur Polizeigewalt der letzten Monate. Neuen Leaks zufolge hat China eine derartige Untersuchung untersagt, als Regierungschefin Carrie Lam diese bei einem Treffen ansprach. Mittlerweile sind außerdem die internationalen Expert*innen zurückgetreten, die Hongkongs Polizeiaufsichtsbehörde beraten sollten. Wie auch viele Demonstrierende glauben sie nicht, dass diese Behörde ausreichende Befugnisse habe, um eine ernsthafte Untersuchung durchzuführen.

In Hongkong gehen Kinder auf die Straße. Diese Zahlen muss man sich immer wieder vor Augen halten: 300 der 472 Mittelschulen in Hongkong haben Schüler*innen unter den Festgenommenen der letzten sechs Monate. In die Mittelschule gehen Kinder im Alter von 11 bis 18 Jahren. Reuters hat einen eindringlichen Investigativbericht über die Kinder der Proteste. Darunter der 17-jährige Pak, der noch zur Schule geht, aber in seiner Freizeit Mollies vorbereitet. Die politischen Ereignisse der letzten Monate haben einen Großteil der jungen Generation radikalisiert.

Öffentliche Meinung. Es gibt wieder spannende Umfragezahlen aus Hongkong, die zeigen, dass es weiter breite Unterstützung für die Kernforderungen der Demonstrierenden gibt: 72 Prozent unterstützen die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung zur Polizeigewalt, 70 die Forderung nach erneuten politischen Reformen mit dem Ziel freier Wahlen und eines allgemeinen Wahlrechts.

Kollektives Trauma bei den Protesten. Lausan hat einen wichtigen Artikeln zu den psychologischen Folgen der Proteste übersetzt, in dem eine Psychologin argumentiert, dass die Ereignisse der letzten Monate als „kollektives Trauma“ gesehen werden könnten. So schade die staatliche Gewalt nicht nur der Psyche von Einzelpersonen, sondern auch der Gesellschaft als kollektiver sozialer Einheit.

🇹🇼

Häh, Wahlen in Taiwan? Falls ihr taiwanesische Parteipolitik verwirrend findet, haben wir zwei Einführungen in Podcastform: Eine zu den aktuellen Wahlen vom Juli und eine vom Januar 2018, in der auch das Parteisystem ausführlich erklärt wird. Falls ihr lieber lest, habe ich die Rolle der Chinafrage in den Wahlen für die ZEIT aufgeschrieben, aber mit weniger Hintergrund zum Parteiensystem. TL;DR. Die DPP ist eher chinakritisch, sozial etwas progressiver und stellt die aktuelle Präsidentin Tsai Ing-wen. Die KMT ist eher chinafreundlich, konservativer und schickt mit Han Kuo-yu einen populistischen Kandidaten mit wenig Regierungserfahrung ins Rennen.

Lage des Wahlkampfes. Nur noch zwei Ausgaben, dann sind die Wahlen wieder vorbei! Aber was für ein Wahlkampf es bisher war – u.a. mit einem Katzenposter der Präsidentin Tsai und einer Wahlkampfveranstaltung, die gleichzeitig ein Death Metal-Konzert war. In den Umfragen liegt Präsidentin Tsai weiter deutlich vorn und es sieht wirklich so aus, als könnte sie im Januar gewinnen. Lev Nachman schreibt über die Schwierigkeiten der jungen New Power Party, die 2014 nach großen Protesten von politischen Aktivist*innen gegründet wurde und sich offen für taiwanesische Unabhängigkeit einsetzt. Taiwan bleibt wohl auf absehbare Zeit ein Zweiparteienstaat.

Digitale Demokratie und Falschinformationen in Taiwan. Während sich die Wahlen in Taiwan nähern, häufen sich auch die Sorgen um Falschinformationen aus China, die die Wahlen beeinflussen könnten. So hat Facebook schon letzte Woche 138 Seiten, 99 Gruppen und 51 Accounts geschlossen, die KMT-Kandidat Han unterstützten und „künstlich ihre Reichweite erhöht“ hätten. Das Election Observatory Stanford hatte einige der Gruppen bereits vorher wegen verdächtigem Verhalten gemeldet. Die LA Times berichtet außerdem über die Factchecker*innen, die aus den unendlich vielen Informationen auf Facebook die falschen heraussuchen sollen. Doch während Facebook sich mit den politischen Problemen herumschlägt, die das Netz mit sich bringt, berichtet Wired über die „civic tech“-Bewegung, die aus den großen Protesten 2014 hervorging. Hacker*innen der Bewegung versuchen mit technischen Tools, öffentliche Teilhabe und Taiwans Demokratie zu stärken. Eine von ihnen, Audrey Tang, ist mittlerweile sogar Teil der Regierung.

Proteste gegen Han. Han Kuo-yu, Kandidat der pro-chinesischen KMT, war vor einem Jahr zum Bürgermeister der südtaiwanesischen Stadt Kaohsiung gewählt worden. Er verließ den Posten aber praktisch direkt wieder, um auf nationaler Ebene anzutreten und hat so die Stadt, die ihn wählte, quasi im Stich gelassen, wofür er oft kritisiert wird. Jetzt gibt es eine Rückrufbewegung gegen ihn, die am Wochenende Tausende in Kaohsiung auf die Straße brachte. Han mag ein Populist sein, aber viele Bewohner*innen der Stadt, die er eigentlich regieren sollte, haben die Nase voll von seinen leeren Versprechen.

Kinmen: Wo chinesische und taiwanesische Realität aufeinanderprallen. Die Insel Kinmen liegt direkt an der chinesischen Küste, wird aber von der taiwanesischen Regierung kontrolliert. Die geografische Nähe zu China macht die Insel, die lang mit allen Mitteln gegen eine militärische Invasion Chinas verteidigt wurde, zu einem politisch sensiblen Ort mit starkem chinesischen Einfluss. Die Insel ist außerdem sehr pro-chinesisch eingestellt, da viele Anwohner*innen von engen wirtschaftlichen Verbindungen zum Festland profitieren. Wie genau der chinesische Einfluss in Kinmen aussieht, der Taiwanes*innen von China überzeugen soll, könnt ihr in Amber Lins Reportage nachlesen.

Boba-Diplomatie. In Deutschland mag der Bubbletea-Hype vorbei sein, aber in Taiwan, wo es herkommt, ist das Getränkt politisch: Viele Ketten haben sich im Rahmen der Hongkonger Proteste Druck aus China gebeugt und teils öffentlich ihre Unterstützung für die chinesische Regierung bekannt, um dort weiter Geschäfte zu machen. In Taiwan werden sie jetzt dafür boykottiert.

Wer ist Qiu Maojin? Die kurze Antwort: Die erste offen lesbische Autorin der chinesischsprachigen Literatur und eine queere Ikone Taiwans, die sich mit 26 in Paris das Leben nahm. Die lange Antwort gibt es in diesem Interview mit Evans Chan, dessen Film über Qiu im Oktober auf dem International Queer Film Festival Hamburg seine Weltpremiere feierte. Eines von Qius wichtigsten Werken, Aufzeichnungen eines Krokodils, wird im März 2020 erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen.


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